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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 8.1904

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Heft 15
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Schmidtbonn, Wilhelm: Das Glücksschiff: Erzählung
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https://doi.org/10.11588/diglit.19988#0416

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Das Glücksschiff.

ein Schimpfen. Und in der Tat erzürnte es fie, daß
die Laternen nvch brannten, ihr teures Gas verzehrten,
ivährend der Tag schvn da ivar. So lange sie lebte,
hatte bei ihr das Licht nicht länger gebrannt, als es
nötig rvar, höchstens, da sie noch ein junges Ding
ivar, das sich in der Sonntagsfrühe vor dem Spiegel
schmückte, um mit dem Liebsten in die blühenden
Wiesen zu gehen.

Aber kaum hatte das Mütterchen angefangen zu
knurren, da erloschen die Laternen auch schon — eine
nach der andern, so ivie der Mann, der zu jeder hin-
kam, die Flammen mit seiner langen Stange berührte.

Und nun ivar auch endlich zu erkennen, ivas das
Mütterchen für ein Mütterchen ivar: da war ein
Gesicht, so eckig und nicht viel größer als eine hin-
gehaltene Männersaust, und so voll Falten, wie eine
Faust innen enthält, wenn sie halb geöffnet ist. Mund
und Augen waren in den Falten untergegangen,
waren nicht zu sehen, und nur die Nase hob sich noch
klein, aber scharf und gerade, daraus hervor, und von
ihr aus verliefen alle Falten in gekrümmten Linien,
so als ob eine Hand die Nase genommen und aus
dem Meer der Falten herausgezogeu hätte, wo sie
nun wie ein Fels stand. Über dem Gesicht aber —
das dazu braun wie aus Erde war uud sein Leben
nur durch ein häufiges blitzartiges Zucken all der
Falten verriet, wobei sich diese auseinanderlegten und
plötzlich zwei große blaue Augen zeigten, klar und
ausstrahlend wie junge Mädchenaugen — schimmerte
der geordnete, gerade und schlichte Scheitel weißer
Strähne, der unwillkürlich in dem, der darauf hiu-
untersah, die Empfindung von etwas Gutem, Reinem
und Verehrungswürdigem hervorrief.

Arbeiter gingen vorbei, Männer und Frauen, die
vom andern Ufer unter dem riesenhast getürmten
Eisenbogen der Brücke herkamen und, ihr Eßgeschirr
in der Hand, ihren Fabriken zueilten, deren Schlote
schon dichte Rauchmassen über den Strom verbreitcten.
Das waren die Glücklichen, die in dieser harten Zeit
des Schnees, der Not und der Arbeitslvsigkeit überall,
noch Arbeit und Verdienst hatten, deshalb satt und
übermütig, zum Spott aufgelegt waren: mit gleich-
mäßigem Klang ihrer Schritte gingen sie an dem
Mütterchen vorüber, die klein und zusammengedrückt,
nicht anders als ein Bündel alter Tücher, auf ihrem
Holzblock saß, sahen nach ihr hin, lachten und riefen
ihr zu: „Flink Moder, dat Schifs jeht av!"

Das Mülterchen aber hielt unverwandt den Kopf
nach seiner Richtung hingedreht, tat keinen Blick nach
den rufenden trappelnden Menschen hin.

Dann kamen andere Scharen: die Massen derer,
die keine Arbeit hatten, aus ihrer alten Arbeit ent-
lassen waren, zu keiner neuen Arbeit angenominen
wurden, die deshalb nicht mehr das an Geld sich
verdienen konnten, was zum Leben nötig war, die,
nachdem sie die Nacht in irgendwelchen Winkeln zu-
gebracht, nun am Tag keinen andern Aufenthaltsort
hatten als das letzte freie, offene, von keinem Zaun,
nur vom Himmel eingeschlossene Stück Erde, das
ihnen niemand verwehrte, das das einzige war, woran
sie von der weiten Fülle der Welt noch teilhatten.

Tag für Tag standen sie hier, am Ufer, die Hände
in den Tascheu, die Arme auf das Eisengeländer ge-
slützt, in dünnen zugeknöpften Jacken, und sahen auf
das Wasser hinaus, mit Augen, die von der Not
und der beginnenden Verzweislung alle sonderbar ge-
weitet waren, tief in den Höhlen der Backen lagen,
sahen immer hinaus auf die weite, durch keiue Straßen
eingeteilte, von keinen Häusern bebaute freie Flul,
die, durch keine Macht der Menschen zu halten, un-
ablässig dahinströmte. Hier war etwas, das noch
stärker war als die Starken unter den Menschen,
die Besitzenden, die Beglückten, etwas, das Herr war
über die Herren, und deshalb sühlten sie sich wvhl
hier, atmeten freier, stolzer, sie, die Geknechteten, die
ohne Besitz Dahinlebenden, fühlten sich wie unter
einem Schutz. Stunim sahen sie darauf hinaus, ver-
langend, als ob sie von dem Ewigen da, dem ge-
heimnisvoll und schweigend Strömenden, dem über
alles menschliche Maß Riesenhaften die Hilfe er-
warteten, die ihnen die Menschen in den lauten engen
Straßen da versagten.

Frauen kamen mit großen Körben, die wie aus
Schätzesuchen ausgingen und die doch abends die
Körbe so leer heimbrachten, wie sie sie morgens weg-
getragen hatten. Sie ließen sich auf den Treppen-
stufen der Häuser am ltfer nieder, sprachen nicht,
sahen nach den Männern hin, schlugen hin und wieder
die Kinder, die zu ihren Füßen spielten — die Kinder,
die in Schuhen steckten, die von Erwachsenen kamen,
aus den Ascheimern der reichen Häuser hervvrgegrciben
waren und ihnen fast von den Füßen fielen, in Jacken,
die ihnen bis zur Erde reichten, so daß sie darüber
stolperten. So saßen die Frauen da und wartelen,
warteten wie die Männer auf irgend etwas, das sie
selber nichl kannten — das ganze breite Ufer schien
erfüllt vvn diesem Warten.

Alle diese Leute wareu uicht laut, übermütig,
spottend wie die voiigen, waren durch die Entbeh-
rungen, durch deu Maugel an Dingen, die sie ihr
eigen nennen und an denen sie Freude habeu konnten,
still geworden. Aber sie waren auch stumpf geworden
kannten keine Neugier mehr, waren hart geworden,
kannten kein Mitleid mehr, sahen über das Mütterchen
auf dem Holzblock gleichgültig hinweg: das war nur
eine der ihren, eine wie sie, die da saß und mit
ihnen wartete. Sie hatte ja sogar noch etwas vor
den meisten anderen voraus, hatte den Holzblock da,
hatte einen Platz zum Sitzen, der ihr gehörte, ihr
allein, während sie, die anderen, nichts als die Eisen-
stangen des Geländers hatten, auf die sie sich stützen
konnten, oder die Treppenstufen, die aus Stein und
kalt waren und von denen die satten und warm-
gekleideten Männer, denen die Häuser gehörten, sie
von Zeit zu Zeit wegwiesen.

Schon ging es auf den Mittag zu, ohne daß der
Tag, wie den ganzen Wintcr schon, aus mehr alo
eiuer Art Dämmerung bestand: grau und schwer war
der Himmel, grau und schwer das Wasser, grau und
schwer das weite ebene llfer drüben, auf dessen Acker-
boden sich noch Stücke weißen Schnees erhalten hatt"n.
Aber wenn auch die Sonne nicht schien, die Luft war

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