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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 8.1904

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Heft 12
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Schulte, Heinrich: Verschiedene Hühner oder Wie schön wäre die Welt, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.19988#0273

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erschiedene Hiihner
oder wie schön wäre die welt.

Line moralisierende Eeschichte mit überslüssiger
Vorrede. Von Heinrich Zchulte.

VernünstigenMenschenwiderstehenmoralisierende

Teschichten.

Und doch eine schreiben?

Vas Leben hat sie geschrieben.

Ls ist ja eine verbrauchte Wahrheit: jeder
Nensch moralisiert durch sein Leben. Sür ein
gelehriges, mitleidendes oder grinsendes Publikum
braucht er nicht zu sorgen.

Genau so hat auch jede Teschichte ihre Noral.
Aber das sind die feinsten, von denen man nicht
denkt, daß sie eine hätten. Die aber keine haben,
sind auch keine Teschichten. —

In meines Vaters Leihbibliothek sührten
Indianer- und Räubergeschichten ein bewegtes und
verdienstreiches Dasein. AAr Ainder verschlangen
sie im Winkel. Am Kamilientische saßen wir mit
den Büchern des Verfassers der Rühreier. Lo
nannten wir Undankbare sie später. Von ihm
selbst werden ste Vstereier genannt.

Die beiden Tegensätze wirkten auf uns wie
Rhabarber und Gpium in der leiblichen Verdauung.
Im Winkel beurteilten wir die „Teschichten" nach
der Blutrünstigkeit der Bilder. Am ßamilientische
hockten wir über den verlesenen Blättern und
weinten oft so herzbrechend, daß ich annehmen
muß: wäre nur ein Seelchen in dem Buche ge-
wesen, es HLtte sich vor dem Iammer verschlossen.
Lo ging's denn unserm Noralorgan wie der Leber
gestopfter Eänfe; es wurde fein und pikant —
aber krank.

Doch die Natur ist unverwüstlich; fie versucht's
mit dem Rückschlag.

Die verbotene Lesung verlor ihren Reiz. Die
Rühreier wurden nach Nöglichkeit und Teschmack
gereinigt, indem wir dumme Hühner allmählich
die rührsamen Lrmahnungen und Betrachtungen
mit größter Kingerfertigkeit überschlugen. Die Rüh-
rung ließen wir uns gesallen.

Nur die gesammelten kleinen Teschichten, an
deren Lnde ein klassischer Reim des Llloralpudels
Rern zu umfassen verfuchte, waren und blieben uns
unangenehm. Wir merkten nämlich die Abficht, und
in der bekannten Verstimmung wurde die Ver-
achtung fo groß, daß wir selbft solche Lrzählungen
sabrizierten.

2er Artikel war bald im Lchwange. Rlugen
Hühnern würden wahrscheinlich diese schreiend lehr-
reichdn Teschichten vom braven Nax und vom bösen
ßritz im vergleich mit den Griginalen Hridolin
und Metrich als beleidigende Imitationen erschienen
sein. Uns dummen gab das glückliche tzervor-
bringen dieser Mndeier eine gewaltige Portion
Lelbstbewußtsein. Dies war der einzige Lrfolg
und kein schlechter.

Also, mit den moralifierenden Tefchichten hat's
seine zwei Leiten. Rluge Hühner schlagen im
Ratechismus oder Anstandskodex nach, finden etwas
und machen die Teschichte dazu. Damit es aber
umgekehrt aussehe, setzen sie die Lehre ans Lnde.
Z. L.: Nicht immer gereimt, doch stets geleimt.
Und der Leser bekommt moralische Änfälle, schließ-
lich die Noralschwindsucht, und dünkt sich feierlich
einen Märtyrer.

Die Dummen schreiten munter durchs Leben,
fallen herein oder steigen hinauf, — oder aber,
sie schauen zur Leite, sehen andere purzelbäume
schlagen und die Lllbogen gebrauchen: setzen sich
hin, schreiben die Teschichte und haben moralisiert.

2er Leser aber merkt's nicht. 2er Vogel frißt.
Ls wird ßleisch.

Leider fielen alle diese überslüssigen Tedanken
mit der nachfolgenden Teschichte zusammen. 2as
Leben hatte die Noral so sehr dick aufgetragen.
Ich mußte sie suchen und sinden.

Und da es nun einmal so ift, will ich mich
mit der Tatsache abfinden. Lo gut wie möglich.
2er Leser muß auch. 2och follen ehrlicherweife die
Noralien voraufgefchickt werden.

Ls sind ihrer nämlich drei darin:

f. 2ie vernünftigsten tzühner vergesfen häufig,
daß fie auch einmal glücklich-dumme Uüken
waren.

2. 2ie klügsten Hühner legen ihre Lier ost neben
das Neft.

Z. Lin blindes Huhn findet auch noch ein
Uörnchen.

Was ich nun erzählen muß, ist keine spaßige
Hühnergeschichte, sondern eine gar ernste Tefchichte
von ganzen und halben Menschen; und wenn ich
mit einem blinzelnden Auge begann, fo gefchah's,
weil ich mir erst das Ärgerlich-Lächerliche von der
Zeele schreiben mußte, das durch die leidigen Te-
danken und Bedenken über mich kam.

-t- -t-

-i-

Als kleiner Iunge hatte ich das stille Ztück
Lrde kennen gelernt, manche ßerien dort zugebracht
und war dann später den verwandten dankbar,
als sie dem schreibenden Vetter ein Zimmer ihres
derb-stattlichen Haufes überließen.

In dieser Zeit war fie Lchülerin.

Vft noch erinnern mich gute Ztunden an ihr
scheueS Ulopfen und dann sehe ich auch wieder den
slachsigen Ropf der 2reizehnjährigen, wie er einst
mit schelmifchem Ruck der Wimpern die befcheidene
ßrage wiederholte.

Und wenn ein ähnliches Alopfen mein Lchauen
und Träumen unterbrochen hat, ist ost das „Romm
nur herein" über die Lippen gehuscht.

Aus dem gutgebildeten Ainde wurde eine Rem-
brandtsche Iungfrau: kräftige, edle ßülle. Unser
Verhältnis blieb dasselbe. Ihre Unterhaltung
wurde mir eine unentbehrliche Lrholung, ihr Urteil
in vielen 2ingen maßgebend.

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