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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 11.1906

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Heft 1
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Hamann, Richard: Der Impressionismus in Leben und Kunst, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.26233#0051

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DER IMPRESSIONISMUS IN LEBEN UND KUNST.

und untergeordneter Sätze, alle Einschachte-
lungen hindurchzuführen und zu beschließen,
will uns kaum noch in den Sinn. Man verlangt
von uns, zu schreiben, wie wir sprechen, und
der moderne Prosastil wird so zum Telegramm-
stil. Nietzsche beklagt sich einmal über diesen
Mangel an Energie und Gedächtnis, mit dem
wir uns in kurzen abgebrochenen Sätzen gehen
lassen.

Diese Art des Sprechens und Schreibens
führt uns aber zu der Form des modernen Denkens
überhaupt. Gibt es überhaupt eine impressio-
nistische Philosophie? Denn es scheint ja
von vornherein ein Unding, daß Logik, Denken
mit dem Unlogischen und Zusammenhangslosen
etwas zu tun haben soll. Und in der Tat, die
letzte Zeit war, wie kaum eine, aller Philo-
sophie abhold, allem Rationalismus feind. Denn
heute finden wir, daß das philosophische Inter-
esse erst wieder erwacht. Man würde bei
den Pädagogen, die auch in der Schule die
Ausbildung der Sinne verlangen, der Eindrucks-
fähigkeit besonders des Auges, kaum Verständ-
nis finden, wenn man die Mathematik dafür in
den Vordergrund schöbe. Dennoch aber haben
wir auch moderne Denker, und in der Form
ihres Philosophierens zeigen sie deutlich den
Zusammenhang mit dem Impressionismus. Sie
denken unsystematisch. Für unsere Zeit ist
oder war Systemglaube wieder Aberglaube,
und Hegel der bestgehaßte, bestgeschmähte
Philosoph, weil der größte Systematiker. Der
moderne Philosoph äußert sich im Essay oder
Aphorismus oder im Feuilleton. Jeder denkt
hier zunächst an Nietzsche. Aber auch ein
Physiker und Philosoph, E. Mach, der in Wien
lebt, hat seine Philosophie in kurzen aphoristi-
schen Abschnitten, unsystematisch ausge-
sprochen (Analyse der Empfindungen).

Eine andere Art der Unsystematischen und
dem vorher in der Poesie charakterisierten
Variationsverfahren verwandt ist es, wenn mo-
derne Philosophen einen Gedanken nach den
verschiedensten Seiten drehen und wenden, ihn
unter allen Beleuchtungen sehen und zeigen,
ohne eine dieser Seiten als die entscheidende
herauszuheben oder alle zu einem übergeord-
neten Gesichtspunkt zu verknüpfen. Wer die
Schriften Simmels (Berlin) kennt, weiß, was
ich meine.

Es hängt diesem Verfahren etwas von der
Zufälligkeit des bloßen Einfalles — des gedank-
lichen Gegenstücks zum Eindruck — an, dessen
Reichhaltigkeit man bewundern kann, ohne
immer über das Unbegründete dessen, daß es
gerade so viel und nicht mehr oder weniger
sind, hinwegzukommen. Nietzsche liebte den
Einfall mit seinen Überraschungen, seine Ideen
überfielen ihn hinterrücks, und nichts ist charak-
teristischer, als daß er das Recht für sich in
Anspruch nahm, die Gründe seiner Meinungen

vergessen zu dürfen. Das Bild von Vögeln,
die ihm zufliegen und entschwirren, drückt
wundervoll diese Stimmung aus. Der Syste-
matiker läßt sich weniger überraschen, sobald
er seine Gesichtspunkte hat, weil er nach allem
Vorhergehenden schon auf das Folgende lauert,
und willentlich an der Begründung und dem
logischen Fortgang arbeitet.

Inhaltlich ist es das Wesen der impressio-
nistischen Philosophie, daß sie es bei dem
Mangel eines leitenden Gesichtspunktes, irgend
eines Wertes, unter dessen Direktive der Wille
unter den Tatsachen auswählt und zusammen-
fügt, auch nicht zu einem Weltbegriff bringt
Ihr fehlt der Glaube, und so ist sie im tiefsten
Grunde skeptisch. Den Manen Voltaires hat
der skeptische Nietzsche seine kühlsten Apho-
rismen gewidmet. Der Skeptiker, der sich nicht
an eine Überzeuguug bindet, kein Vorurteil
stets im Gedächtnis hat, dem er nachurteilend
alles andere unterwirft, reagiert deshalb auch
auf jede philosophische Meinung entweder
spöttelnd und verneinend, oder bedingtermaßen
anerkennend, den logischen Reiz und die re-
lative Wahrheit mit Wohlwollen aufnehmend.
So ist der Relativismus oder die historische,
mehr beschreibende als systematische Richtung
ihm durchaus konform. Wir können auch hier
sagen, der Relativist schleppt keine philo-
sophische Vergangenheit mit sich, die ihm
Anerkennen oder Ablehnen in jedem Fall vor-
schreibt. Der bedeutendste Kathederphilosoph
dieser Richtung, Wilhelm Dilthey (Berlin), hat
sein systematisches Werk: Einleitung in die
Geisteswissenschaften, dort abgebrochen, wo es
aus dem historischen Teil in den dogma-
tischeren hineinführen sollte.

Wo sich der relativistische Geist dennoch be-
stimmter im Sinne eines einzig Wahren, einzig
Wirklichen ausgesprochen hat, ist es in einem
Sinne geschehen, den man Psychologismus ge-
nannt hat. Diese Ansicht sträubt sich dagegen,
das, was wir alle im täglichen Leben, und was
die Naturwissenschaft Wirklichkeit nennt, eben-
falls als wirklich und für sich bestehend hinzu-
nehmen. Sie erklärt, das, wovon wir wissen,
seien nur Vorstellungen, nur Erlebnisse psycho-
logischer Art, eine wirkliche Welt außerhalb
des Bewußtseins gibt es nicht. Von einer
Realität können wir nur beim einzelnen psycho-
logischen Individuum mit seinen Empfindungen
und der Aufeinanderfolge solcher Empfindungen
reden. Hier ist es nun wichtig zu begreifen,
daß der natürliche und naturwissenschaftliche
Weltbegriff gar nicht die Eindrücke, die psycho-
logischen Erlebnisse wahllos hinnimmt, sondern
daß er bei allen Eindrücken Rücksicht nimmt
auf frühere Erlebnisse oder Erfahrungen, und
auf die Erfahrungen seiner Mitmenschen, mit
denen ihn gemeinsame praktische Interessen
verbinden. Unter diesem Einfluß früherer

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