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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 11.1906

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Heft 1
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Hamann, Richard: Der Impressionismus in Leben und Kunst, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.26233#0055

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DER IMPRESSIONISMUS IN LEBEN UND KUNST.

Absicht herbeiführen. Statt zu wollen und zu
werten, probiert man aus und ist froh, wenn
durch abenteuerliche Situationen einem be-
ständig neue Sensationen, Ausschnitte eines
Lebens zugeführt werden. Das gleiche liegt in
dem Bedürfnis, ja etwas zu erleben. Oder es
macht sich eine Schätzung aller Boheme, alles
Vagabundentums in Literatur, Presse und Salon
bemerkbar (Gorki, Ostwald). Die feinste und
liebenswürdigste Persönlichkeit dieser Art,
Peter Hille, hat förmlich eine Sekte gebildet und
einen Kultus entfesselt. Und das, was willens-
tüchtige Zeiten am meisten verachteten, das
Sichgehenlassen, die völlige Unbekümmertheit
um Haltung und Achtung, diese passive Rück-
sichtslosigkeit ist im Lichte eines Ideals ver-
klärt. Die Formel Sichausleben ist von der
impressionistischen Ethik geprägt.

Es liegt diesem impressionistischen Genießen
des Augenblicks nahe, auch jene Zustände be-
sonders zu schätzen, die für den Moment be-
seligen, und erst in ihrer Nachwirkung, an die
der Impressionist nicht denkt, eine üble Seite
herauszukehren. Der Rausch in jeder Hinsicht,
und die Genußmittel, die ihn herbeiführen, und
die Fähigkeit des Willens und Intellekts, zu
koordinieren, zu regulieren, unterminieren, Opium,
Absinth spielen in der modernen Literatur eine
große Rolle.

Es liegt ferner in dieser Wertung des Ge-
nusses und des Nachgebens gegen den augen-
blicklichen Impuls, daß sich eine Propaganda
der sexuellen Sinnlichkeit damit verbindet. Es ist
eins der Zeichen der Zeit, wie in diesen Dingen
alle Zurückhaltung zu schwinden pflegt, nicht
nur im Verkehr zwischen Mann und Frau,
mehr noch in der Diskussion aller diese
menschliche Seite betreffenden Fragen, in Wort
und Bild. Es gilt für veraltet, oder für kindlich,
oder auch nur ungesund, sich in Sachen der
Liebe Zwang anzutun. Denn man darf nicht
übersehen, daß ein freies Wort als Reaktion
gegen falsche Prüderie doch nicht verlangt, in
allen Gelegenheiten, in der Zeichnung, in der
literarischen Skizze, ja selbst unter der Marke
der Wissenschaft alle Möglichkeiten dieses
Rausches zur Schau zu stellen. Eine impressio-
nistische Kultur bedarf aber, daß die Luft
ständig von einer sinnlichen Atmosphäre erfüllt
ist; was dieses Duftes entbehrt, wie z. B.
Schiller, reizt nicht (Dehmel, H. Bahr, Hartleben,
Schnitzler, Halbe, Beardsley, Rops, Toulouse-
Lautrec, Richard Muther). Daß auch in der Musik
Wagners sich die Brunsttöne vernehmbar machen,
hat Nietzsche gefühlt und fragt, ist das noch
deutsch, dies schwüle Sinnekreischen? Zugleich
verzichtet sie auf die Form der Liebe, die in einer
langanhaltenden Werbung die Vereinigung nur
als letztes Ziel einer Reihe von Ritterlichkeiten,
nur als Erfüllung ansieht, und die Verpflichtung
nach dem Zugeständnis fühlt. Ein — ernst-

haft oder scherzhaft von der Bühne vernehm-
barer Vorschlag eines Ordens, in dem niemand
einem andern seine Gunstbezeugung versagt
(Wedekind), ist charakteristisch für diese Ge-
sinnung, und so bleibt von der Liebe nur jenes
irrationale, zusammenhangslose Augenblicks-
erlebnis übrig, von dem sich alle nach-
denkenden Naturen wie um den Erfolg betrogen
und enttäuscht fanden.

Eine solche Schätzung des Augenblicks-
genusses verlangt naturgemäß eine Verbindung
von Mann und Frau, die zu nichts verpflichtet,
keine Konsequenzen trägt und keine Vergangen-
heit mit sich schleppt, die freie Liebe. Familie
wird als Fessel und Belastung empfunden, die
Ehe als Faulheit. Die satirischen Bilder aus dem
Familienleben (T. T. Heine) sprechen eine viel
allgemeinere Tendenz aus, als etwa bloß die
Mißachtung einer kleinlichen Mittelstandshäus-
lichkeit. An die Stelle dieser Sakramente hat
man dann zwei neue Ideale gesetzt, das kleine
süße Mädel (Schnitzler) und die Dirne (Gorki,
Dostojewski), oder die gebildete Hetäre. Paris
und Wien übernehmen die Führung darin. Hier
mag einmal gefragt werden, wie weit die schon
fast zur Mode oder zum guten Ton gehörende
modernste Form der Liebe, des Liebhabers zum
Geliebten, mitbedingt ist durch die Folgenlosig-
keit eines solchen Verhältnisses, die es erlaubt,
hier die Vereinigung ganz zum nichtsbedingen-
den, isolierten Augenblicksgenuß zu gestalten.
Die bittersten Aphorismen gegen Ehe, gegen
verheiratete Männer und Frauen sind von
O. Wilde geschliffen worden.

Es besteht überhaupt eine große Reizbarkeit
gegen alles, was engagieren könnte, einen Zu-
stand über den Augenblick hinaus verlängern
könnte. Ibsen verschmähte es, jahrzehntelang in
einer eigenen Wohnung mit eigenen Möbeln zu
hausen, um nicht durch die Objekte an denselben
Ort gebunden zu sein. Tugenden, die gerade
das Festhalten am Alten und das gute Gedächt-
nis verlangen, gelten jetzt eher für lästige Lasten,
wie Dankbarkeit und Treue. Man kann Hand-
lungen versprechen, aber keine Gefühle, sagt
Nietzsche. Es ist aber für nicht impressio-
nistische Zeiten wesentlich, daß selbst die Ge-
fühle ihr gutes Gedächtnis haben. Man denke
ferner daran, einen wie großen Einfluß Nietzsche
auf die jüngste Generation gewonnen hat durch
die Kritik des Gewissens, dessen Entstehung
aus der Nachwirkung, dem Haften früherer Er-
lebnisse und Erfahrungen über die Beurteilung
der Mitmenschen man durchschaute, und das
durch diese seine Genealogie für diese impres-
sionistische Anschauung auch sofort entwertet
war. Ebenso war, daß die Menschheit in der
Moral eine jahrtausendelange Vergangenheit
als ererbte Sitten und Gebräuche mit sich
schleppte, der stärkste Gegengrund gegen diese
Moral. Nietzsche, der an einer Stelle ausruft:

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