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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 11.1906

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Heft 3
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Hesse, Hermann: Eine Fussreise im Herbst, [2]: Schluß
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https://doi.org/10.11588/diglit.26233#0162

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EINE FUSSREISE IM HERBST.

Ich hätte ihn am liebsten erschlagen, doch
nannte ich meinen Namen, zog den Hut und
ließ ihn weiterfahren. Also das war Herr
Herschel. Ein angenehmer Mann, und wohl-
habend. Wenn ich an Julie dachte, was für
ein stolzes und prächtiges Mädchen sie gewesen
war und wie sie meine damaligen phantastisch
kühnen Ansichten und Lebenspläne verstanden
und geteilt hatte, dann würgte es mich im
Halse. Mein Zorn war augenblicks verflogen.
Gedankenlos in tiefer, hilfloser Traurigkeit ging
ich durch die alte, kahle Kastanienallee in das
Städtchen hinein.

Im Gasthaus war gegen früher alles ein
wenig feiner und modern geworden, es gab
sogar ein Billard und vernickelte Servietten-
behälter, die wie Globusse aussahen. Der Wirt
war noch derselbe, Küche und Keller waren
einfach und gut geblieben. Im alten Hof stand
noch der schlanke Ahornbaum und lief noch
der zweiröhrige Trogbrunnen, in deren kühler
Nachbarschaft ich manche warme Sommer-
abende bei einem Bier vertrödelt hatte.

Nach dem Essen machte ich mich auf und
schlenderte langsam durch die wenig ver-
änderten Straßen, las die alten wohlbekannten
Namen auf den Ladenschildern, ließ mich
rasieren, kaufte einen Bleistift, sah an den
Häusern hinauf und strich an den Zäunen hin
durch die ruhigen Gartenwege der Vorstadt.
Eine Ahnung beschlich mich, daß meine Jlgen-
berger Reise eine große Torheit gewesen sei,
und doch schmeichelte mir Luft und Boden hei-
matlich und wiegte mich in umrißlose, schöne,
wirre Erinnerungen. Ich ließ keine einzige
Gasse unbesucht, stieg auf den Kirchturm, las
die ins Gebälk des Glockenstuhls geschnitzten
Lateinschülernamen, stieg wieder hinunter und
las die öffentlichen Anschläge am Rathaus, bis
es anfing zu dunkeln.

Dann stand ich auf dem unverhältnismäßig
großen, öden Marktplatz, schritt die lange Reihe
der alten Giebelhäuser ab, stolperte über Vor-
treppen und Pflasterlücken und hielt am Ende
vor dem Herschelschen Hause an. Am kleinen
Laden wurden gerade die Rolläden herunter-
gelassen, im ersten Stockwerk hatten vier
Fenster Licht. Ich stand unschlüssig da und
schaute am Haus hinauf, müde und beklommen.
Ein kleiner Junge marschierte den Platz herauf
und pfiff den Jungfernkranz; als er mich da-
stehen sah, hörte er zu pfeifen auf und sah
mich beobachtend an. Ich schenkte ihm zehn
Pfennig und hieß ihn weitergehen. Dann kam
ein Lohndiener und bot sich mir an.

„Danke,“ sagte ich, und plötzlich hatte ich
den Glockenzug in der Hand und schellte kräftig.

JULIE.

Die schwere Haustür ging zögernd auf, im
Spalt erschien das Gesicht einer jungen Dienst-
magd. Ich fragte nach dem Hausherrn und

wurde eine dunkle Treppe hinaufgeführt. Im
Gang oben brannte ein Öllicht, und während
ich meine angelaufene Brille abnahm, kam
Herschel heraus und begrüßte mich.

„Ich wußte, daß Sie kommen würden,“ sagte
er halblaut.

„Wie konnten Sie das wissen?“

„Durch meine Frau. Ich weiß, wer Sie
sind. Aber legen Sie, bitte, ab. Hier, wenn ich
bitten darf. — Es ist mir ein Vergnügen. —
O, bitte. So, ja.“

Es war ihm offenbar nicht sonderlich wohl,
und mir auch nicht. Wir traten in ein kleines
Zimmer, wo auf dem weißgedeckten Tisch
eine Lampe brannte und zum Abendessen ser-
viert war.

„Hier also. Meine Bekanntschaft von heute

morgen, Julie. Darf ich vorstellen, Herr-“

„Ich kenne Sie,“ sagte Julie und erwiderte
meine Verbeugung durch ein Nicken, ohne mir
die Hand zu geben.

„Nehmen Sie Platz.“

Ich saß auf einem Rohrsessel, sie auf dem
Diwan. Ich sah sie an. Sie war kräftiger,
schien aber kleiner als früher. Ihre Hände
waren noch jung und fein, das Gesicht frisch,
aber voller und härter, noch immer stolz, aber
gröber und glanzlos. Ein Schimmer von der
ehemaligen Schönheit und zarten Anmut war
noch vorhanden, an den Schläfen und in den
Bewegungen der Arme, ein leiser Schimmer — —
„Wie kommen Sie denn nach Jlgenberg?“
„Zu Fuß, gnädige Frau.“

„Haben Sie Geschäfte hier?“

„Nein, ich wollte nur die Stadt wieder ein-
mal sehen.“

„Wann waren Sie denn zuletzt hier?“

„Vor zehn Jahren. Sie wissen ja. Übrigens
fand ich die Stadt nicht allzusehr verändert.“
„Wirklich? Sie hätte ich kaum wieder er-
kannt.“

„Ich Sie sofort, gnädige Frau.“

Herr Herschel hustete.

„Wollen Sie nicht zum Abendessen bei uns
vorlieb nehmen?“

„Wenn es Sie gar nicht stört — “

„Bitte sehr, nur ein Butterbrot.“

Es gab jedoch kalten Braten mit Gallerte,
Bohnensalat, Reis und gekochte Birnen. Ge-
trunken wurde Tee und Milch. Der Hausherr
bediente mich und machte ein wenig Konver-
sation. Julie sprach kaum ein Wort, sah
mich aber zuweilen hochmütig und mißtrauisch
an, als möchte sie herausbringen, warum ich
eigentlich gekommen sei. Wenn ich es nur
selber gewußt hätte!

„Haben Sie Kinder?“ fragte ich, und nun
wurde sie ein wenig gesprächiger. Schulsorgen,
Krankheiten, Erziehungssorgen, alles im besse-
ren Philisterstil.

„Ein Segen ist ja die Schule trotz allem
doch,“ sagte Herschel dazwischen.

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