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Studien und Skizzen zur Gemäldekunde — 5.1920/​1921

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Frimmel, Theodor von: Zwei frühe Arbeiten von Nicolas Poussin
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Frimmel, Theodor von: Eine auffallende Sehtäuschung
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https://doi.org/10.11588/diglit.52778#0134

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über der schon längst verwaschenen Überlieferung, die erst 1873 festge-
halten wurde. Diese Tradition spricht nur von einem Bacchanal, wogegen
Felibien einige Bilder dieser Art nennt. Ob die Bilder für die Kapuzinerkirche
in Blois, die bei Felibien erwähnt werden, jemals wieder gefunden werden,
ist gänzlich ungewiß. Daß aber in den vorliegenden zwei Bacchanalen von
Poussin, die sich jetzt im Besitz des Herrn Ingenieurs Van Nes befinden,
die zwei Bacchanale aus Cheverny wieder zum Vorschein gekommen sind,
ist nahezu sicher. Als Entstehungszeit kann man wohl den Lebensabschnitt
gegen 1620 annehmen.
Es ist wahrscheinlich, daß die Episode mit den Bacchanalen in die
Zeit fällt, als Poussin von seiner ernsten Erkrankung schon gründlich ge-
heilt und schon wieder voll Jugendfrische an der Arbeit war. Aus jener
Zeit ungefähr ist uns durch Bellori („Le vite“, 1. Teil von 1672) eine Mit-
teilung erhalten, die der bekannte Quellenschriftsteller von Poussin selbst
überkommen hat. In den Jahren von 1620 bis 1623 machte Poussin zwei-
mal den Versuch, nach Rom, an das ersehnte Ziel aller damaligen Künstler,
zu gelangen. Beim ersten Versuch kam er nur bis Florenz, beim zweiten
sogar nur bis Lyon. Dort nahm ihm ein Kaufmann sein Reisegeld ab, so gründ-
lich, daß dem jungen Maler nur ein Scudo übrigblieb. Statt den Kopf
hängen zu lassen, spottete er über sein Schicksal und vertat den letzten
Scudo des Abends beim heiteren Mahl mit seinen Genossen („. . . egli,
beffandosi della fortuna: prenditi, disse, ancor questo [sc. scudo], e lo spese
la sera medesima allegramente co’ suoi compagni ä cena“). Die kleine Ge-
schichte, die auch dadurch fesselt, daß offenbar Poussins eigene Worte an-
geführt werden*), scheint darauf hinzudeuten, daß der junge Poussin zu
Bacchus in freundlichem Verhältnis gestanden hat. Und diese Beobachtung
gehört auch noch in den Zusammenhang meiner Erörterungen.
Dr. Th. Frimmel.

EINE AUFFALLENDE SEHTÄUSCHUNG.
Der Mensch lebt ohne Zweifel in einem unauflösbaren Knäuel von
Täuschungen. So sind heute noch weitaus die meisten Menschen durch ihre
Anlage und Erziehung gezwungen, der groben Täuschung zu unterliegen,
als hätten sie frei bestimmbaren Willen. Über die Lage der Dinge um uns,
in uns herrscht eine erstaunliche Unsicherheit, wenn man sich nicht durch
das anmaßende Selbstbewußtsein der Famuli täuschen läßt, die gerade durchs
Mikroskop oder Teleskop geguckt haben, oder von ihren kleinen Funden
in den Arbeitsräumen der Chemie, Physik und anderer Wissenschaften her-
kommen. Als sicher weiß der Mensch eigentlich nichts anderes, als daß er
ein körperliches Dasein führt. Daß er Bewußtsein hat, ist schon eine sprach-
liche Umschreibung des Unbegreiflichen. Man muß sich eben mit Worten
weiterhelfen, wo klar umgrenzte Begriffe fehlen. Überzeugende Vorstellungen
räumlicher Verhältnisse sind nur durchs Messen zu gewinnen, und zwar
durch ein Messen mit angelegten Maßen, welche in keinem Bewegungs-
*) Dabei ist wohl zu beachten, daß Poussin als echter Franzose auch im italie-
nisch Sprechen sich selbst anredet: »prenditi ancor questo«. Alle Franzosen sind Soli-
loquisten.

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