Gedichle
Sophie van Leer
Tempei aus dem Morgenlande schimmern
Deine Augen
Auf meiner Stirne spieien Deine Hände
in meine Träume gleißt Dein Schritt
Um meinen Nacken schlängelt Dein Lachen
In weinender Demut knie ich vor Dir
Mein Antlitz atmet
*
Dein Herz schlägt tausend Schläge
Dein Rücken trägt den Himmel
Du wächst in die Welt
Dein Blick sammelt Gebet
Glut kränzt Deine Stirn
Licht keimt Dein Atem
Aus meinen Augen kniet Dein Altar
Flamme zuckt nach dem Duft Deines Mundes
Ich reihe alle Gestirne um Deinen Nacken
Ich raube den Sternen ihr Silberkleid
Ich biege die Blitze in Deinen Schoß
Ich klinge Glöckchen um Deine Gelenke
Meine Tage sind tot
In Klippen irren Gedanken
Düsternis welkt Trauer
Tod weint über die Ebene meiner Seele
tastet in Schmerz alle Wände ab
jagt den Wald meiner Nächte
klagt die Welt aller Sehnsucht
Spie!
Wirf mich
fange mich
Klein-Spielgefährt
Spinne Dein Seidenhaar
schling Deine Rankenhändchen
wippe die Trippelfüßchen
wirf die Glieder
in die Sonne
hasch mich
ich fange Dich
Klein-Spielgefährt
Seidenfaden
Erzählung
Adolf Knoblauch
T
Die kleine Malschülerin Sine hatte das
schwarze spiessige Einsegnungskleid abgelegt.
Ein geschwungener breitrandiger Hut deckte ihr
dunkles Haar, sie trug ein lila Kleid mit rundem
Ausschnitt und nackten Armen. Das Haar, von
der Stiefmutter glatt gescheitelt, rollte sie in zwei
schönen Bögen um die Stirn und schwang es an
den Wangen zum Liebesknotcn auf den Nacken
ihinab. Die bisher beim Nahen eines Mannes ängst-
lich gesenkten Augen hob sie schwermütig. Ant-
wortete sie vordem bei der Anrede eines Mannes
nichts als „Ja" oder „Nein", so begann sie jetzt
die Ansichten Seidenfadens zu äußern. Mit großen
runden Augen Seidenfadens starrte sie auf Jeden.
Eines Tages legte ein großer, schwerer Mann
seine Tatze auf Sinens zarten, jungen Nacken: „Na
Mächen, jetzt wirste aber hübsch!" Sine machte
sich beleidigt los und regte sich auf: „Lassen Sie
das bitte!" Nur Seidenfaden durfte die Hand auf
ihren Nacken legen, nur in Seidenfadens Geleit
besuchte sie das Theater, nur von ihm ließ sie
sich am Bahnhof abholen. Sine besuchte die Mal-
schule eines Professors, der bekannte Oelbilder
von Elfenreigen. Tanz der Blumenmädchen und
Parzivals ritterlichen Prüfungen gemalt hatte,
seine Gestalten waren asketisch, präraffaeli-
tisch. Kein Wunder, daß Seideniaden der Erste
und Einzige war, der ihrem präraffaelitischen
Ideal beglückend entsprach: seine Parzivallocken,
Kniehosen, der stelzende Gang, die runden großen
Augen gemahnten sie an des Professors Tanz der
Blumenmädchen: die Sechzehnjährigen tanzen um
Parzival.
Seidenfaden betete seine schlanke präraffaeli-
tische Geliebte an, aus der orangenen Lohe hatte
er sie gehoben und sich ihr gesellt. Heimliche Wege
mußte er gehen, denn Sinen gefielen heimliche
Wege wohl, und um der Stiefmutter ein Schnipp-
chen zu schlagen, war ihr kein Weg zu heimlich.
In den ersten Liebesnächten hatte sie sich mit
einem dunklen Winkel im Hause beholfen, dann
wurde Sine kühner und das kleine Mädchen
nahm den Liebsten auf ihr Zimmer. Sie legten sich
zu Bett. Seidenfaden hielt auf die ritterliche Tra-
dition des Wagnerschen Bühnenweihspiels, aber
sie liebten und küßten Einander dennoch frisch.
Da Vater Dolling nebenan seine Theaterkritik ar-
beitete, verhielten sich die Liebenden still im Bett.
Aber es hätte nicht dieses Henmisses bedurft,
denn die präraffaelitische Liebe war unfruchtbar.
In der nackten Zärtlichkeit war Seidenfadens Lust,
er mied die Häßlichkeit der befruchtenden Tat. Es
gelüstete ihn nach Sinen, er war neugierig, er-
regte sich, fieberte, aber er fürchtete die Flammen.
Denn auf den Stirnen junger Frauen steht die
Warnung geschrieben:'
„Die geringste Zärtlichkeit ohne den Gedanken
an Vereinigung errichtet Ausschweifung."
R *
R
Seidenfaden erwachte an einem heißen son-
nigen Vormittag um zehn Uhr. zog sich eilig an,
stellte Wasser zum Thee auf den Kocher und
holte vom Flur seine beiden täglichen Schrippen
samt der Post. Ein Brief im Bütten-Umschlag, die
Adresse von Sine in schrägen, dicken Zügen ge-
schrieben. war früh gekommen. Seidenfaden zog
die lila Vorhänge zu, stand mit dem Brief und
dachte nach, dann entnahm er ihm einen großen
Büttenbogen, beschrieben mit einem Gedicht, das
von unzähligen Gedankenstrichen unterbrochen
war.
Seit ewigen Zeiten war es die köstlichste
Brautgabe der reinen und freien Frauen, sich mit
ihrem Jungmädchenstolz dem Liebsten hinzugeben.
Sine kleidete ihre frische Liebe in literarische Pose,
ihre freie Anmut puderte sie mit Damenschmacb-
ten.
Seidenfaden las den Brautbrief und errötete.
Dann verfärbte er sich und seine Augen brannten
nächtig. Er brachte seine Stube in Ordnung, das
blaue Bett verhüllte er mit der Liladecke, stellte die
durchsessenen Stühle in den Winket, säuberte den
wüsten Schreibtisch, rückte des toten Beethoven
Gipsmaske grad, schloß die Fenster und Vorhänge
dicht vor dem Sommertag, entzündete die Lila-
lampe und die Kerzen seiner beiden grünen Wand-
leuchter, verbrannte schließlich ein Stück Ambra.
Er beschloß, fastend die Feierlichkeit des Empfangs
von Sinens Brautbrief zu begehen.
Inmitten seiner sackleinenwattierten Zelle
stellte er den Notenständer und holte die Geige
aus dem Kasten. Nun entkleidete er sich eilig und
begab sich völlig nackt in seiner dürftigen Mager-
keit vor den Notenständer. Er hatte das Zimmer
nicht abgeschlossen, denn zu jedem Augenblick
sollte die Geliebte bei ihm eintreten dürfen. Den
Brief hatte er aufgeschlagen auf den lila Samt
des Ständers gelegt. Er betete mit tiefer Stimme,
die Handflächen aneinander gelegt, den Brief:
Du — Du — Du —
Du weisst, was cs sagt —
Du fühlst — Du sinnst über das Unendliche
in diesem Du —
Was soll ich da noch schreiben —
Du sagst — und erkennst — und verstehst ja
Alles —
Ich wiederhole Dich nur —
Und tausend Mal kanns nicht anders sein!
Du — Du — Du —
Was machst Du mit mir —?
Du gabst mir Deine Sehnsucht —
Ich will sie noch sehnsüchtiger machen —
Dtt sollst in Deiner Sehnsucht auf ewig leben —
Ja — Ja — Ja —
mein Leben lang —
Ja-!
Deine Einsamkeit fühle ich —-
Denn sie ist auch meine —-
Du — Du — Du
Verstehst Du denn —
Mein Schweigen nicht —?
Ja — Ja — Ja —
Du verstehst mein Schweigen —
Aber Du bist zu unsicher in Deinem Glück —
Und Ich — Ich — Ich —
soll nur sagen —
Du hast meine Seele —
Und ich hab Deine Seele —
Und sie sollen sich —
Ewig zu Einander sehnen — Namenlos
Die Kerzenflammen knisterten fressend zu
Seidenfadens Häupten. Seidenfaden schwieg, stolz
hinterm Ständer aufgerichtet. Dann ergriff er die
Geige und spielte Sinens Leitmotiv. Draußen auf
der Stiege ging ein schwerer Tritt, der Bäcker-
junge hotte die leeren Brotbeutel von den Türen.
Da erhob Seidenfaden die schrille Sopranstimme
und sang nach Sinens Leitmotiv den Brautbrief.
Schneekamps, ihre drei Töchter, sämtliche Haus-
bewohner öffneten ihre Türen und lauschten
kopfschüttelnd. Der Bäckerjunge miaute und sang
drunten von der Treppe herauf:
Den schönsten Platz, den ich auf Erden hab,
ist eine Rasenbank am Dönhoffsplatz!
Seidenfaden hörte nicht. Nach dem Wort
„Namenlos" legte er die Geige in den Kasten,
zog die Kleider an, öffnete Vorhänge. Fenster und
trug auf dem Titelblatt seines neuen Manuskriptes
ein: „Des Jünglings Siegel zerbrach . . .!"
II
An einem schönen Abend Ende Mai war
Seidenfaden mit Sine und Frau Gabrielen im
dichten Walde. Sie ruhten zudritt in einer Mulde
des Abhangs und schauten durch die Kiefern auf
den See herab, der in roter Lohe brannte. Kein
Mensch würde sie in diesem versteckten Wald-
winkel suchen. Des Sommers bunte, klare Wol-
ken hingen über ihnen in den strengen Wipfeln,
Wanderlieder schwebten durch den Waid, und
nahe raunte im sachten Wind Aeolsharfen-Läuten.
Die hellblaue Nacht kam und die Drei starr-
ten seit Stunden wortelos auf die See. Sine lag
eng verschlungen mit Seidenfaden und sie küßten
Einander ohne Aufhören. Frau Gabriela saß
daneben, aufgerichtet, und schaute starren Blicks
unter gerunzelter Stirn auf das Abendrot, bis
es überm See in ferner Walddichte verging. Sie
war eifersüchtig auf das kosende Paar und
fühlte sich schmerzlich einsam. Schließlich bat
die listige Sine: „Gabriela, du bleibst doch
diese Nacht mit uns zusammen. Du kommst mit
52
Sophie van Leer
Tempei aus dem Morgenlande schimmern
Deine Augen
Auf meiner Stirne spieien Deine Hände
in meine Träume gleißt Dein Schritt
Um meinen Nacken schlängelt Dein Lachen
In weinender Demut knie ich vor Dir
Mein Antlitz atmet
*
Dein Herz schlägt tausend Schläge
Dein Rücken trägt den Himmel
Du wächst in die Welt
Dein Blick sammelt Gebet
Glut kränzt Deine Stirn
Licht keimt Dein Atem
Aus meinen Augen kniet Dein Altar
Flamme zuckt nach dem Duft Deines Mundes
Ich reihe alle Gestirne um Deinen Nacken
Ich raube den Sternen ihr Silberkleid
Ich biege die Blitze in Deinen Schoß
Ich klinge Glöckchen um Deine Gelenke
Meine Tage sind tot
In Klippen irren Gedanken
Düsternis welkt Trauer
Tod weint über die Ebene meiner Seele
tastet in Schmerz alle Wände ab
jagt den Wald meiner Nächte
klagt die Welt aller Sehnsucht
Spie!
Wirf mich
fange mich
Klein-Spielgefährt
Spinne Dein Seidenhaar
schling Deine Rankenhändchen
wippe die Trippelfüßchen
wirf die Glieder
in die Sonne
hasch mich
ich fange Dich
Klein-Spielgefährt
Seidenfaden
Erzählung
Adolf Knoblauch
T
Die kleine Malschülerin Sine hatte das
schwarze spiessige Einsegnungskleid abgelegt.
Ein geschwungener breitrandiger Hut deckte ihr
dunkles Haar, sie trug ein lila Kleid mit rundem
Ausschnitt und nackten Armen. Das Haar, von
der Stiefmutter glatt gescheitelt, rollte sie in zwei
schönen Bögen um die Stirn und schwang es an
den Wangen zum Liebesknotcn auf den Nacken
ihinab. Die bisher beim Nahen eines Mannes ängst-
lich gesenkten Augen hob sie schwermütig. Ant-
wortete sie vordem bei der Anrede eines Mannes
nichts als „Ja" oder „Nein", so begann sie jetzt
die Ansichten Seidenfadens zu äußern. Mit großen
runden Augen Seidenfadens starrte sie auf Jeden.
Eines Tages legte ein großer, schwerer Mann
seine Tatze auf Sinens zarten, jungen Nacken: „Na
Mächen, jetzt wirste aber hübsch!" Sine machte
sich beleidigt los und regte sich auf: „Lassen Sie
das bitte!" Nur Seidenfaden durfte die Hand auf
ihren Nacken legen, nur in Seidenfadens Geleit
besuchte sie das Theater, nur von ihm ließ sie
sich am Bahnhof abholen. Sine besuchte die Mal-
schule eines Professors, der bekannte Oelbilder
von Elfenreigen. Tanz der Blumenmädchen und
Parzivals ritterlichen Prüfungen gemalt hatte,
seine Gestalten waren asketisch, präraffaeli-
tisch. Kein Wunder, daß Seideniaden der Erste
und Einzige war, der ihrem präraffaelitischen
Ideal beglückend entsprach: seine Parzivallocken,
Kniehosen, der stelzende Gang, die runden großen
Augen gemahnten sie an des Professors Tanz der
Blumenmädchen: die Sechzehnjährigen tanzen um
Parzival.
Seidenfaden betete seine schlanke präraffaeli-
tische Geliebte an, aus der orangenen Lohe hatte
er sie gehoben und sich ihr gesellt. Heimliche Wege
mußte er gehen, denn Sinen gefielen heimliche
Wege wohl, und um der Stiefmutter ein Schnipp-
chen zu schlagen, war ihr kein Weg zu heimlich.
In den ersten Liebesnächten hatte sie sich mit
einem dunklen Winkel im Hause beholfen, dann
wurde Sine kühner und das kleine Mädchen
nahm den Liebsten auf ihr Zimmer. Sie legten sich
zu Bett. Seidenfaden hielt auf die ritterliche Tra-
dition des Wagnerschen Bühnenweihspiels, aber
sie liebten und küßten Einander dennoch frisch.
Da Vater Dolling nebenan seine Theaterkritik ar-
beitete, verhielten sich die Liebenden still im Bett.
Aber es hätte nicht dieses Henmisses bedurft,
denn die präraffaelitische Liebe war unfruchtbar.
In der nackten Zärtlichkeit war Seidenfadens Lust,
er mied die Häßlichkeit der befruchtenden Tat. Es
gelüstete ihn nach Sinen, er war neugierig, er-
regte sich, fieberte, aber er fürchtete die Flammen.
Denn auf den Stirnen junger Frauen steht die
Warnung geschrieben:'
„Die geringste Zärtlichkeit ohne den Gedanken
an Vereinigung errichtet Ausschweifung."
R *
R
Seidenfaden erwachte an einem heißen son-
nigen Vormittag um zehn Uhr. zog sich eilig an,
stellte Wasser zum Thee auf den Kocher und
holte vom Flur seine beiden täglichen Schrippen
samt der Post. Ein Brief im Bütten-Umschlag, die
Adresse von Sine in schrägen, dicken Zügen ge-
schrieben. war früh gekommen. Seidenfaden zog
die lila Vorhänge zu, stand mit dem Brief und
dachte nach, dann entnahm er ihm einen großen
Büttenbogen, beschrieben mit einem Gedicht, das
von unzähligen Gedankenstrichen unterbrochen
war.
Seit ewigen Zeiten war es die köstlichste
Brautgabe der reinen und freien Frauen, sich mit
ihrem Jungmädchenstolz dem Liebsten hinzugeben.
Sine kleidete ihre frische Liebe in literarische Pose,
ihre freie Anmut puderte sie mit Damenschmacb-
ten.
Seidenfaden las den Brautbrief und errötete.
Dann verfärbte er sich und seine Augen brannten
nächtig. Er brachte seine Stube in Ordnung, das
blaue Bett verhüllte er mit der Liladecke, stellte die
durchsessenen Stühle in den Winket, säuberte den
wüsten Schreibtisch, rückte des toten Beethoven
Gipsmaske grad, schloß die Fenster und Vorhänge
dicht vor dem Sommertag, entzündete die Lila-
lampe und die Kerzen seiner beiden grünen Wand-
leuchter, verbrannte schließlich ein Stück Ambra.
Er beschloß, fastend die Feierlichkeit des Empfangs
von Sinens Brautbrief zu begehen.
Inmitten seiner sackleinenwattierten Zelle
stellte er den Notenständer und holte die Geige
aus dem Kasten. Nun entkleidete er sich eilig und
begab sich völlig nackt in seiner dürftigen Mager-
keit vor den Notenständer. Er hatte das Zimmer
nicht abgeschlossen, denn zu jedem Augenblick
sollte die Geliebte bei ihm eintreten dürfen. Den
Brief hatte er aufgeschlagen auf den lila Samt
des Ständers gelegt. Er betete mit tiefer Stimme,
die Handflächen aneinander gelegt, den Brief:
Du — Du — Du —
Du weisst, was cs sagt —
Du fühlst — Du sinnst über das Unendliche
in diesem Du —
Was soll ich da noch schreiben —
Du sagst — und erkennst — und verstehst ja
Alles —
Ich wiederhole Dich nur —
Und tausend Mal kanns nicht anders sein!
Du — Du — Du —
Was machst Du mit mir —?
Du gabst mir Deine Sehnsucht —
Ich will sie noch sehnsüchtiger machen —
Dtt sollst in Deiner Sehnsucht auf ewig leben —
Ja — Ja — Ja —
mein Leben lang —
Ja-!
Deine Einsamkeit fühle ich —-
Denn sie ist auch meine —-
Du — Du — Du
Verstehst Du denn —
Mein Schweigen nicht —?
Ja — Ja — Ja —
Du verstehst mein Schweigen —
Aber Du bist zu unsicher in Deinem Glück —
Und Ich — Ich — Ich —
soll nur sagen —
Du hast meine Seele —
Und ich hab Deine Seele —
Und sie sollen sich —
Ewig zu Einander sehnen — Namenlos
Die Kerzenflammen knisterten fressend zu
Seidenfadens Häupten. Seidenfaden schwieg, stolz
hinterm Ständer aufgerichtet. Dann ergriff er die
Geige und spielte Sinens Leitmotiv. Draußen auf
der Stiege ging ein schwerer Tritt, der Bäcker-
junge hotte die leeren Brotbeutel von den Türen.
Da erhob Seidenfaden die schrille Sopranstimme
und sang nach Sinens Leitmotiv den Brautbrief.
Schneekamps, ihre drei Töchter, sämtliche Haus-
bewohner öffneten ihre Türen und lauschten
kopfschüttelnd. Der Bäckerjunge miaute und sang
drunten von der Treppe herauf:
Den schönsten Platz, den ich auf Erden hab,
ist eine Rasenbank am Dönhoffsplatz!
Seidenfaden hörte nicht. Nach dem Wort
„Namenlos" legte er die Geige in den Kasten,
zog die Kleider an, öffnete Vorhänge. Fenster und
trug auf dem Titelblatt seines neuen Manuskriptes
ein: „Des Jünglings Siegel zerbrach . . .!"
II
An einem schönen Abend Ende Mai war
Seidenfaden mit Sine und Frau Gabrielen im
dichten Walde. Sie ruhten zudritt in einer Mulde
des Abhangs und schauten durch die Kiefern auf
den See herab, der in roter Lohe brannte. Kein
Mensch würde sie in diesem versteckten Wald-
winkel suchen. Des Sommers bunte, klare Wol-
ken hingen über ihnen in den strengen Wipfeln,
Wanderlieder schwebten durch den Waid, und
nahe raunte im sachten Wind Aeolsharfen-Läuten.
Die hellblaue Nacht kam und die Drei starr-
ten seit Stunden wortelos auf die See. Sine lag
eng verschlungen mit Seidenfaden und sie küßten
Einander ohne Aufhören. Frau Gabriela saß
daneben, aufgerichtet, und schaute starren Blicks
unter gerunzelter Stirn auf das Abendrot, bis
es überm See in ferner Walddichte verging. Sie
war eifersüchtig auf das kosende Paar und
fühlte sich schmerzlich einsam. Schließlich bat
die listige Sine: „Gabriela, du bleibst doch
diese Nacht mit uns zusammen. Du kommst mit
52