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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 15.1924

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Déry, Tibor: Die große Kuh
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https://doi.org/10.11588/diglit.47214#0047

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die Ureinwohner der Erde geschlossenen
Auges unter dir wandern, mit
langen Fingern ihren Atem
betasten, aus dem Blut fliesst
die Kinder sind stumm und verscheuchen
die Mücken
Alles fliegt weg
deinem grossen Körper zu, in welchem
Du sanft wie einen Laib
Brot, das Unglück trägst
spät abends
du beugst dich auf meine Stirne und
sagst: bubu mein Vöglein!
¥
so leben wir
so reisen wir zwischen den Zellen
wo von den Schläfen der Toten Nordwind
bläst
meine Mutter ertrunken
und die Wolken ihren Schnabel öffnen und
mondfarbenes Wasser
auf die Erde giessen
die Flut spült niegesehene Wesen auf
meine Schwelle
sie erheben sich und legen sich stumm
in mein ,Bett
das sind die mitternächtlichen Veilchen¬
esser
¥
die vier Jahreszeiten sind zu Ende und
wir sind noch immer am Leben
deine Glastannen verwelkt
unsere Kinder liegen zerstreut unter der
Erde wie Kohle
hier fliesst kein Wasser
die Augen der Tiere sind entschlafen
grosse Sandsterne stehen überden Hügeln,
wo Tag und Nacht Sonne brennt
die Lippen der Friedhöfe zerrissen
wir können nicht sterben
¥
wir können nicht leben
der Wald ist gross
das Meer ist schwarz
schlaflos und heiss wie die Steine liegen
wir unter dem Zeichen des
Krebses, in dichter Nacht
die Jahre sind bewegungslos wie eine
gerade Linie
nur du flatterst über mir süsses Milchtier,
grosse Kuh!
die bei Mondwechsel die Wölfe und die
Schafe gebärt, die Katzen und die
Mäuse, die Schlangen, Eidechsen,
Vögel und Fische, grüne Palmen
entwachsen ihrer Stirne
das ist deine schwere Stunde und ich weine

der Mond hebt seinen Zeigefinger, sagt: pst
bald ist es hell, bald ist es dunkel
ich bin Mutter und lebe mit unglücklichen
Gefährten unter der Luft, du
dort oben verlasse mich nicht
. die magnetischen Felder entschweben
unseren Händen
wer öffnet ihre Tiefen, in denen mit
blinzelnden Augen fremd’reine
Wesen warten:
unsere Söhne, die den Tag und die Nacht
erbauten
¥
fliegst du kleiner Käfer!
leuchtender lieber Glühwurm mit dem
süssen Euter
bist grösser als die Berge
duftender als das Heu
¥
schon legt sich der Wind
das Wasser stockt
vielleicht wären wir glücklicher wenn wir
sterben würden
deiner Stirne ist alle Erde entfallen, er
*• steht verstümmelt im Stern¬
regen, der Atem bleibt uns
auf halbem Wege stecken
wje die leeren Aehren schweben wir
zwischen Stern und Brot schaukelt der Weg
- * ¥
oder morden
morgens Erde essen
nachmittags Wasser trinken
mitternachts Kinder gebären
¥
die du dort oben über dem Mond, über
der Sonne brüllst und
deine Jungen säugest
langsam und vorsichtig im unbekannten
Raum schreitest wie ein Komet
in den Spuren deiner Hufe brennt Milch
am Himmel: unsere
nächtliche Sehnsucht
Hoffnung der Berge
grosse Liebe
Blut der Engel
wir trinken und nie versiegt es
¥
nie versiegt es: vielleicht damit wir leben
auch die Sonne scheint vielleicht
die Hügel schwanken unsicher wie der
Flug der Käfer
2X2 ist vier

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