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1899. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.
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der Priester den Schatz, nach der Heimkehr
erinnert er sich dessen; beide Male eilt zuerst
der Priester allein zur Stätte des Mahles (oder
des heiligen Opfermahles), findet die Kapsel,
will sie vom Baume abnehmen, doch eine
überirdische Hand hält das Heiligthum zurück.
Dann eilt der Priester — hier ebenso wie
dort — zum fürstlichen Herrn zurück, der mit
Gefolge herbeieilt und durch Versuch das
Wunder konstatirt. Sowohl der Graf im Gau
Verdun, wie Kaiser Ludwig hier, erkennt in
dem Vorgange den Hinweis des Himmels auf
den prädestinirten Bauplatz. In beiden Fällen
wird eine Kapelle über dem Baumstamme er-
baut, kurz darauf südlich daneben die Stifts-
kirche. Endlich lebt der Baum — in S. Mihiel
ebenso wie in Hildesheim7) — unter dem
Altare fort, durchbricht die Apsiswand und
umschlingt mit seinem reichen Gezweig liebe-
voll das alte Gemäuer.
An poetischem Reiz überflügelt dann die
Hildesheimer Erzählung ihre ältere Schwester,
als gegen oder nach 1600 der „Baum" zur
Rosenstaude wurde. Anfangs trat diese An-
nahme, weil das Wort „arbor" (in der Fundatio
und im Proprium des Hildesheimer Brevieres8)
nicht gut auf einen Strauch bezogen werden
konnte, noch etwas schüchtern auf als eine
„Ueberzeugung Vieler", die noch um 1650 —
zu P. Eibers' Zeit, — von Anderen angefochten
wurde.9) Mit grösserer Bestimmtheit nimmt
alsbald die Poesie sich des Rosenstockes an;
in schwungvollen Distichen feiert gegen Ende
des XVII. Jahrh. Johann Heinrich Cohausen
die Rosa Mariana als Unterpfand des ewigen
Bestandes unseres Bisthums.10) Gleichzeitig mit
ihm erscheint auf dem Gebiete der Homiletik
als Verehrer der Rose von Hildesheim der
Jesuit Johann Lüsken in seiner Sammlung
marianischer Predigten, die er zu einem „maria-
nisch-sächsischen Rosenhag" 1707 zusammen -
fafste.11) Dann gegen Ende des XVIII. Jahrh.
7) Eibers »Annales Hild.« Prooem. § 10.
8) Officium Dedicationis Eccl. Cath. Dom. IV. post
Pascha.
9) Eibers a. a. O.
10) J. H. Cohausen »Dissertatio de sede plantarem
anomala: in Commercii litlerarii Dissertationes
epistolicae . . . J. H. Nunninghii et J. H. Cohausen.
Tom. III, 239—295. — Roemer »Der tausendjährige
Rosenstock« S. 11 f.
u) »Roselum Mariano-Saxonicum seu orationes in
festivitatibus B. M. V. habitae.« Auetore Joanne
Lüskenio S. J. (Paderbornae 1707).
— vielleicht beeinflufst vom ahnungsvollen
Sinnen der Romantikerzeit — wird die Rose
zum Propheten der Diöcesangeschicke; ihre
Blüthenfülle bedeutet Wachsthum der inneren
oder äufseren Güter des Sprengeis, Blüthen-
armuth aber verkündet Rückgang.12) Von
einem Steingewölbe, das unter dem Altare der
Krypta die Wurzeln des Rosenstockes decken
sollte, redet zuerst 1792 derGymnasial-Professor
Joseph Anton Cramer.13) Ihm folgte Dr. Kratz
(■} 1885). Das „Gewölbe in Figur eines Sarges",
von welchem Cramer redete, wird dem Unter-
bau des früheren Altars der Domgruft ange-
hört haben.
Aus Obigem dürfte hervorgehen, dafs die
aus der Fundatio und aus dem ihr folgenden
Annalista Saxou) entnommene herkömmliche
Erzählung der Gründung des Hildesheimer
Domes Anspruch auf Originalität nicht hat.
Ob auch die bauliche Lage des ältesten
(Cäcilien-) Domes an der Südseite der Marien-
kapelle einfach dem Michaelis-Chronikon nach-
geschrieben ist — die Uebereinstimmung beider
Bauberichte ist auffällig —, mufs dahingestellt
bleiben. Wenn die Fundatio sagt, bis zur Zeit
Bischof Dithmars (1038 — 1044) habe man
Ruinen jenes südlichen Domes gesehen, so
legen wir dieser Angabe, die 60 Jahre nach
dem Verschwinden der Ruinen von einem so
unkritischen Autor aufgezeichnet wird, wenig
VVerth bei. Es kann hier recht gut eine Ver-
wechslung vorliegen mit den Ruinen des
Othwin'schen Epiphaniuskirchleins an der Süd-
seite des heutigen Domes, dessen Baureste un-
mittelbar vor Bischof Dithmars Regierungszeit
weichen mufsten.15) Die Existenz und Lage
des Cäciliendomes (südlich vom heutigen Dome)
direkt zu leugnen, haben wir allerdings keinen
sicheren Grund, weshalb wir uns damit be-
gnügen müssen, auf vorstehende Momente hin-
gewiesen zu haben. Dafs dieser doch gewifs
recht primitive erste Dom schon zwei sehr
hohe Thürme gehabt habe,16) mag Zuthat des
Chronisten sein. (Fortsetzung folgt.)
Hildesheim. A. Bertram.
12) 177G als Zusatz in einer Abschrift derEIbers'schen
Chronik. Hs. 112 der Beverin'schen Bibliothek. S. 40.
— Cramer »Physische Briefe über Hildesheim und
dessen Gegend« (Hildesheim, 1792.) S. 59.
™) »Physische Briefe« S. 58.
u) »Mon. Germ. Hist. SS.« VI, 570 f.
u') Wolfher »Leben Godehards« 37. Kap.
16) Fundatio, S. 8.
1899. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.
122
der Priester den Schatz, nach der Heimkehr
erinnert er sich dessen; beide Male eilt zuerst
der Priester allein zur Stätte des Mahles (oder
des heiligen Opfermahles), findet die Kapsel,
will sie vom Baume abnehmen, doch eine
überirdische Hand hält das Heiligthum zurück.
Dann eilt der Priester — hier ebenso wie
dort — zum fürstlichen Herrn zurück, der mit
Gefolge herbeieilt und durch Versuch das
Wunder konstatirt. Sowohl der Graf im Gau
Verdun, wie Kaiser Ludwig hier, erkennt in
dem Vorgange den Hinweis des Himmels auf
den prädestinirten Bauplatz. In beiden Fällen
wird eine Kapelle über dem Baumstamme er-
baut, kurz darauf südlich daneben die Stifts-
kirche. Endlich lebt der Baum — in S. Mihiel
ebenso wie in Hildesheim7) — unter dem
Altare fort, durchbricht die Apsiswand und
umschlingt mit seinem reichen Gezweig liebe-
voll das alte Gemäuer.
An poetischem Reiz überflügelt dann die
Hildesheimer Erzählung ihre ältere Schwester,
als gegen oder nach 1600 der „Baum" zur
Rosenstaude wurde. Anfangs trat diese An-
nahme, weil das Wort „arbor" (in der Fundatio
und im Proprium des Hildesheimer Brevieres8)
nicht gut auf einen Strauch bezogen werden
konnte, noch etwas schüchtern auf als eine
„Ueberzeugung Vieler", die noch um 1650 —
zu P. Eibers' Zeit, — von Anderen angefochten
wurde.9) Mit grösserer Bestimmtheit nimmt
alsbald die Poesie sich des Rosenstockes an;
in schwungvollen Distichen feiert gegen Ende
des XVII. Jahrh. Johann Heinrich Cohausen
die Rosa Mariana als Unterpfand des ewigen
Bestandes unseres Bisthums.10) Gleichzeitig mit
ihm erscheint auf dem Gebiete der Homiletik
als Verehrer der Rose von Hildesheim der
Jesuit Johann Lüsken in seiner Sammlung
marianischer Predigten, die er zu einem „maria-
nisch-sächsischen Rosenhag" 1707 zusammen -
fafste.11) Dann gegen Ende des XVIII. Jahrh.
7) Eibers »Annales Hild.« Prooem. § 10.
8) Officium Dedicationis Eccl. Cath. Dom. IV. post
Pascha.
9) Eibers a. a. O.
10) J. H. Cohausen »Dissertatio de sede plantarem
anomala: in Commercii litlerarii Dissertationes
epistolicae . . . J. H. Nunninghii et J. H. Cohausen.
Tom. III, 239—295. — Roemer »Der tausendjährige
Rosenstock« S. 11 f.
u) »Roselum Mariano-Saxonicum seu orationes in
festivitatibus B. M. V. habitae.« Auetore Joanne
Lüskenio S. J. (Paderbornae 1707).
— vielleicht beeinflufst vom ahnungsvollen
Sinnen der Romantikerzeit — wird die Rose
zum Propheten der Diöcesangeschicke; ihre
Blüthenfülle bedeutet Wachsthum der inneren
oder äufseren Güter des Sprengeis, Blüthen-
armuth aber verkündet Rückgang.12) Von
einem Steingewölbe, das unter dem Altare der
Krypta die Wurzeln des Rosenstockes decken
sollte, redet zuerst 1792 derGymnasial-Professor
Joseph Anton Cramer.13) Ihm folgte Dr. Kratz
(■} 1885). Das „Gewölbe in Figur eines Sarges",
von welchem Cramer redete, wird dem Unter-
bau des früheren Altars der Domgruft ange-
hört haben.
Aus Obigem dürfte hervorgehen, dafs die
aus der Fundatio und aus dem ihr folgenden
Annalista Saxou) entnommene herkömmliche
Erzählung der Gründung des Hildesheimer
Domes Anspruch auf Originalität nicht hat.
Ob auch die bauliche Lage des ältesten
(Cäcilien-) Domes an der Südseite der Marien-
kapelle einfach dem Michaelis-Chronikon nach-
geschrieben ist — die Uebereinstimmung beider
Bauberichte ist auffällig —, mufs dahingestellt
bleiben. Wenn die Fundatio sagt, bis zur Zeit
Bischof Dithmars (1038 — 1044) habe man
Ruinen jenes südlichen Domes gesehen, so
legen wir dieser Angabe, die 60 Jahre nach
dem Verschwinden der Ruinen von einem so
unkritischen Autor aufgezeichnet wird, wenig
VVerth bei. Es kann hier recht gut eine Ver-
wechslung vorliegen mit den Ruinen des
Othwin'schen Epiphaniuskirchleins an der Süd-
seite des heutigen Domes, dessen Baureste un-
mittelbar vor Bischof Dithmars Regierungszeit
weichen mufsten.15) Die Existenz und Lage
des Cäciliendomes (südlich vom heutigen Dome)
direkt zu leugnen, haben wir allerdings keinen
sicheren Grund, weshalb wir uns damit be-
gnügen müssen, auf vorstehende Momente hin-
gewiesen zu haben. Dafs dieser doch gewifs
recht primitive erste Dom schon zwei sehr
hohe Thürme gehabt habe,16) mag Zuthat des
Chronisten sein. (Fortsetzung folgt.)
Hildesheim. A. Bertram.
12) 177G als Zusatz in einer Abschrift derEIbers'schen
Chronik. Hs. 112 der Beverin'schen Bibliothek. S. 40.
— Cramer »Physische Briefe über Hildesheim und
dessen Gegend« (Hildesheim, 1792.) S. 59.
™) »Physische Briefe« S. 58.
u) »Mon. Germ. Hist. SS.« VI, 570 f.
u') Wolfher »Leben Godehards« 37. Kap.
16) Fundatio, S. 8.