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Zeitschrift für christliche Kunst — 12.1899

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Hoffmann, Joseph: Gothische Nachblüthler
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https://doi.org/10.11588/diglit.3944#0064

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87

1899.

ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 3.

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Gothische Nachblüthler.

ie dem Meere nur allmählich kleine
Stücke eines Küstenstriches abge-
wonnen werden können und es
selbst dann, wenn durch kostspie-
lige künstliche Anlagen eine gröfsere Fläche in
Land verwandelt ist, plötzlich die Dämme über-
fluthet und sein altes Besitzrecht wieder geltend
macht, so geht es auch in den verschiedenen
Kuuststilen. Ein durch jahrhundertelangen Ge-
brauch geweihter volksthümlicher Stil räumt
nur langsam einem neuen seinen Platz oder
bequemt nur theilweise seine Glieder der neuen
Art an. Ganz erstirbt er nie; oft tritt er
vollständig unvermittelt unter ganz fremden
Verhältnissen wieder hervor. So war es mit der
Antike, so war es mit der Gothik. Unter dem
beinahe verknöcherten Konservativismus Eng-
lands lebte sie fort, als auf dem Kontinente
die Renaissance schon ausgelebt hatte. Selbst
an dem gröfsten Architekten dieses Landes,
Inigojones, durch den sich „in seinem Kunst-
gebiete eine tiefer gehende Umwälzung als durch
Shakespeare in der Poesie vollzog", ist, trotz-
dem er sich an den Werken Palladio's gebildet
hatte, diese gothische Nachwirkung deutlich zu
erkennen und auch sein Landsmann Wren ge-
fällt sich nicht nur im Kirchen-, sondern auch
im Palastbau in einer allerdings oft mifsver-
standenen, aber doch bewufsten Nachbildung
des Stiles des XV. Jahrh. Auch auf dem Kon-
tinente machen wir an vielen Orten in dem
Jahrhundert, in welchem Sandrart in der go-
thischen Architektur nur Ungeschicklichkeit,
Unverstand und Unordnung erkannte, die gleiche
Bemerkung, so namentlich in Böhmen, wo der
geniale Baumeister Bayer zu verschiedenen
Malen in die Formenwelt der besten Gothik
zurückgreift und zugleich der als Architekt und
Kunstschriftsteller gleich bekannte Jos. Bernh.
Fischer von Erlach an demselben Stile Ge-
fallen fand.

Gilt es im Allgemeinen von der Renaissance
Norddeutschlands, dafs sie ein Dekorationsstil
war, der sich mit jedem anderen Stile vertrug,
so ist dieser Satz in hervorragender Weise auf
die westfälische anzuwenden. Wölbung, Rippen-
schnitt, Fensterwerk und -Laibung und Streben
bleiben bei den Kirchenbauten bis zum Be-
ginn des dreifsigjährigen Krieges gothisch; in
der Profanarchitektur hält sich die Gothik eben-

falls in den Portalumrahmungen, Gurt- und
Abschlufsgesimsen, Fialen, Staffelfufs und Zinnen-
bekrönung, ja es finden sich noch vollständig
ausgebildete Staffelgiebel ohne irgend welche
Dekoration durch die herrschende Stilart nicht
nur im Anfange des XVII. Jahrh., sondern so-
gar noch bis fast zwanzig Jahre nach dem west-
fälischen Frieden, die in ihrer einfachen Gliede-
rung den Mitteln eines ausgesogenen Bürger-
standes jedenfalls besser entsprachen, als die
kostspieligere Renaissance und das überladene
Barock. Es mangelt ihnen zwar das schlanke
Aufstreben der eigentlichen Gothik, aber immer-
hin sind sie Zeugen des zähen Festhaltens der
einheimischen Baumeister an den ursprünglichen
Formen. Träger dieses Gedankens sind vor
allem die Jesuiten, die ihn namentlich in ihren
Kirchenbauten wie in Düsseldorf und in Münster,
versteinerten und in dieser Richtung auf ihre
Umgebung ihren Einflufs ausübten, wie denn
auch die ehemalige Klarissenkirche in Münster
ihre Abhängigkeit von dem dortigen Jesuiten-
bau nicht verleugnen kann.

Von der aufserordentlichen Zähigkeit dieser
Gedanken zeugt der Umstand, dafs ihm sein
Lebensfaden nicht einmal durch den grofsenKrieg
abgeschnitten wurde. Das beweisen, um etwas
weiter abzuschweifen, der Westbau und derThurm
der Michaelskirche in Schleswig (1643), ein gothi-
scher Kreuzgang in Stralsund (nach 1651), die
Kirchhofskapelle in Leutesdorf (1662) und die
schon dem XVIII. Jh. angehörende Kirche von
St. Maximin bei Trier. Jedoch sind dieses nur
vereinzelte Beispiele. Zwei westfälischen Bi-
schöfen blieb es vorbehalten, in jener Zeit des
überwiegenden Barocks die Gothik in den
Kirchenbauten fast ausschliefslich wieder zur
herrschenden Stilart zu machen: Christoph
Bernard von Galen, Fürstbischof zu Münster,
und Ferdinand von Fürstenberg, Fürstbischof
zu Paderborn. Es ist dieses ein bemerkens-
werthes Zeugnifs für die Vielseitigkeit dieser
beiden Männer, dafs sie — obwohl namentlich
Ferdinand in Folge seines langen Aufenthalts
in Italien sonst entschieden zum Barock hin-
neigte und ein glühender Verehrer Bernini's
war —, die den Klöstern, oft nicht zum Vor-
theil ihrer finanziellen Lage für ihre Kloster-
bauten und die innere Ausstattung ihrer Kirchen,
ihre Barockmeister geradezu aufdrängten, und
 
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