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1899.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 8.
2W
Art ununterbrochen herum. Es war dies eine
nothwendige Folge der starken Horizontal-
theilungen, durch welche der Baumeister sein
Werk gliederte, Auch die doppelte Reihe von
Blättern, welche das Kapital verziert, pafst zu
der Betonung der Horizontale, welche der
Meister aus dem System der romanischen Kunst
behalten hat und durch die er sich von einem
der Bildungsgesetze der Gothik noch fern hält.
Nicht weniger als 18 Fenster der untern
Region sind vollständig verblendet, weil an die
4 • 3 vordere Pfeiler der 2 • 4 Kapellen sowie
am Ende der Kreuzesarme Strebepfeiler sich
anlehnen. In der obern Region finden wir im
Ostchore 7 Fenster und an der Fassade 1 Fenster
der ganzen Länge nach geöffnet. Die untere
Hälfte der 8 Fenster in den Kreuzesarmen
ist verblendet. Die Fenster in den Ecken der
Schlüsse der Kreuzesarme sind vollständig ge-
schlossen. Da auch die 8 Fenster der Vierungs-
kuppel nur in der obern Hälfte offen sind, so
hat der Baumeister von den 50 + 34 + 8 = 92
Fenstern des Innern der Liebfrauenkirche
18 + (8 + 16) + 8 = 50 ganz oder halb ver-
blendet, nur 42, weniger als die Hälfte, regel-
mäfsig gebildet und ganz durchsichtig gelassen.
Mit den 8 obersten Thurrnfenstern über dem
Vierungsgewölbe, hat die Kirche gerade 100 Fen-
ster. Im Aeufsern sind aber nur 84 sichtbar,
weil 4 Paare in den Strebepfeilern, die zwischen
den kleinen Chörchen liegen, verschwinden,
1 Paar durch die Chorthürme verdeckt ist
und 3 Paare in den Ecken des südlichen, west-
lichen und nördlichen Schlufses der Kreuzesarme
im Aufsenbau nicht einmal angedeutet sind.
Zweifelsohne sind solche Verblendungen und
solches Verschwinden von Fenstern architek-
tonische Mängel. Jedenfalls hat trotzdem von
Quast zu hart geurtheilt, wenn er ausruft:
„Wahrlich, der Schöpfer dieser Architektur-
entwürfe hatte die ächte alte Gothik nicht
innerlich, sondern nur äufserlich aufgenom-
men". 7)
Auch im Kölner Dom ist eine Reihe von
Fenstern halb geöffnet. Sowohl dort als in
Trier mufste der Meister die Ecken seiner Kirche
stärken und darum die Oeffhungen durch
Quadern schliefsen, welche als Strebemauern
den Bau zusammenhalten. Die Fenster des
Oberbaues sind in Trier in ihrer untern Hälfte
geschlossen, weil dort sich die Dächer der in
l) »Jahrbücher« 58, S. 188.
den Kreuzeswinkeln angebrachten Kapellen an
die Mittelschiffmauern anlehnen, von Quast
will ferner dem Baumeister der Liebfrauenkirche
zum Vorwurf anrechnen, dafs er unterliefs, oben
im Mittelschiff, d. h. in seinen Kreuzesarmen,
nach französischer Art Triforien statt der Fenster-
verblendungen anzubringen. Aber durch solche
Triforien hätte er die Einheit und Schönheit
seines Baues vernichtet; denn einerseits hätte
er durch sie eine Reihe vertikaler Linien er-
halten, die sich in Gegensatz zu seinen herr-
schenden Horizontalbändern gesetzt haben
würden, andrerseits hätten dann die Ober-
lichter im Innern jene unangenehme Gestalt
erhalten, welche sie im Aeufsern zeigen.
„Strenge Zweckmäfsigkeit und regelrechte
Konstruktion aller architektonischen Formbil-
dungen" hat also auch jener geniale Mann ge-
wollt und befolgt, welcher den Aufrifs der
Trierer Marienkirche zeichnete. Ruhiges Studium
mufs zu dem Ergebnifs kommen, dafs es ein
voreiliges Urtheil war, ihm „Mifsverständnifs
der Bildungsgesetze der Gothik" vorzuwerfen.
Er ist kein nach der akademischen Schablone
geschulter Architekt. Wären manche unserer
Herrn Baumeister und Bauräthe etwas weniger
consequent und regelrecht, dann würden nicht
wenige Kirchen reicher sein an Originalität;
dem Besucher würden manche langweilige
Wiederholung abgedroschener, in alter Ein-
förmigkeit stets wiederkehrender Bildungen
erspart.
Ein erster Umgang geht in der tiefsten Re-
gion vor deren Fenster her, ein zweiter zieht
sich in der höhern Region, im Lang- und Quer-
schiff, vor der obern Fensterreihe hin. Im Chore
und an den übrigen Enden des Kreuzes haben
wir also zwei Reihen Fenster und vor jeder
einen Umgang. Hätte der Baumeister im
Chore den zweiten Umgang nicht durchgeführt,
demnach die 3 obern Fenster mit den 3 untern
zu 3 langen Lichtöffhungen vereint, so wäre
die Einheit seiner Konstruktion verloren ge-
gangen. Ueberdies wäre das Ostchor durch
solche langgezogene Lichtöffnungen zu sehr
betont worden. Der Altar stand nach der ur-
sprünglichen Anlage nicht in ihm, sondern in
der Vierung der Mitte.8; Das Ostchor durfte also
in seiner Anlage nicht als Haupttheil erscheinen,
8) Roistn in den »Trierer Mittheilungen« II, 81 f.
Ein kleiner Altar stand im Ostchore an der Stelle des
jetzigen.
1899.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 8.
2W
Art ununterbrochen herum. Es war dies eine
nothwendige Folge der starken Horizontal-
theilungen, durch welche der Baumeister sein
Werk gliederte, Auch die doppelte Reihe von
Blättern, welche das Kapital verziert, pafst zu
der Betonung der Horizontale, welche der
Meister aus dem System der romanischen Kunst
behalten hat und durch die er sich von einem
der Bildungsgesetze der Gothik noch fern hält.
Nicht weniger als 18 Fenster der untern
Region sind vollständig verblendet, weil an die
4 • 3 vordere Pfeiler der 2 • 4 Kapellen sowie
am Ende der Kreuzesarme Strebepfeiler sich
anlehnen. In der obern Region finden wir im
Ostchore 7 Fenster und an der Fassade 1 Fenster
der ganzen Länge nach geöffnet. Die untere
Hälfte der 8 Fenster in den Kreuzesarmen
ist verblendet. Die Fenster in den Ecken der
Schlüsse der Kreuzesarme sind vollständig ge-
schlossen. Da auch die 8 Fenster der Vierungs-
kuppel nur in der obern Hälfte offen sind, so
hat der Baumeister von den 50 + 34 + 8 = 92
Fenstern des Innern der Liebfrauenkirche
18 + (8 + 16) + 8 = 50 ganz oder halb ver-
blendet, nur 42, weniger als die Hälfte, regel-
mäfsig gebildet und ganz durchsichtig gelassen.
Mit den 8 obersten Thurrnfenstern über dem
Vierungsgewölbe, hat die Kirche gerade 100 Fen-
ster. Im Aeufsern sind aber nur 84 sichtbar,
weil 4 Paare in den Strebepfeilern, die zwischen
den kleinen Chörchen liegen, verschwinden,
1 Paar durch die Chorthürme verdeckt ist
und 3 Paare in den Ecken des südlichen, west-
lichen und nördlichen Schlufses der Kreuzesarme
im Aufsenbau nicht einmal angedeutet sind.
Zweifelsohne sind solche Verblendungen und
solches Verschwinden von Fenstern architek-
tonische Mängel. Jedenfalls hat trotzdem von
Quast zu hart geurtheilt, wenn er ausruft:
„Wahrlich, der Schöpfer dieser Architektur-
entwürfe hatte die ächte alte Gothik nicht
innerlich, sondern nur äufserlich aufgenom-
men". 7)
Auch im Kölner Dom ist eine Reihe von
Fenstern halb geöffnet. Sowohl dort als in
Trier mufste der Meister die Ecken seiner Kirche
stärken und darum die Oeffhungen durch
Quadern schliefsen, welche als Strebemauern
den Bau zusammenhalten. Die Fenster des
Oberbaues sind in Trier in ihrer untern Hälfte
geschlossen, weil dort sich die Dächer der in
l) »Jahrbücher« 58, S. 188.
den Kreuzeswinkeln angebrachten Kapellen an
die Mittelschiffmauern anlehnen, von Quast
will ferner dem Baumeister der Liebfrauenkirche
zum Vorwurf anrechnen, dafs er unterliefs, oben
im Mittelschiff, d. h. in seinen Kreuzesarmen,
nach französischer Art Triforien statt der Fenster-
verblendungen anzubringen. Aber durch solche
Triforien hätte er die Einheit und Schönheit
seines Baues vernichtet; denn einerseits hätte
er durch sie eine Reihe vertikaler Linien er-
halten, die sich in Gegensatz zu seinen herr-
schenden Horizontalbändern gesetzt haben
würden, andrerseits hätten dann die Ober-
lichter im Innern jene unangenehme Gestalt
erhalten, welche sie im Aeufsern zeigen.
„Strenge Zweckmäfsigkeit und regelrechte
Konstruktion aller architektonischen Formbil-
dungen" hat also auch jener geniale Mann ge-
wollt und befolgt, welcher den Aufrifs der
Trierer Marienkirche zeichnete. Ruhiges Studium
mufs zu dem Ergebnifs kommen, dafs es ein
voreiliges Urtheil war, ihm „Mifsverständnifs
der Bildungsgesetze der Gothik" vorzuwerfen.
Er ist kein nach der akademischen Schablone
geschulter Architekt. Wären manche unserer
Herrn Baumeister und Bauräthe etwas weniger
consequent und regelrecht, dann würden nicht
wenige Kirchen reicher sein an Originalität;
dem Besucher würden manche langweilige
Wiederholung abgedroschener, in alter Ein-
förmigkeit stets wiederkehrender Bildungen
erspart.
Ein erster Umgang geht in der tiefsten Re-
gion vor deren Fenster her, ein zweiter zieht
sich in der höhern Region, im Lang- und Quer-
schiff, vor der obern Fensterreihe hin. Im Chore
und an den übrigen Enden des Kreuzes haben
wir also zwei Reihen Fenster und vor jeder
einen Umgang. Hätte der Baumeister im
Chore den zweiten Umgang nicht durchgeführt,
demnach die 3 obern Fenster mit den 3 untern
zu 3 langen Lichtöffhungen vereint, so wäre
die Einheit seiner Konstruktion verloren ge-
gangen. Ueberdies wäre das Ostchor durch
solche langgezogene Lichtöffnungen zu sehr
betont worden. Der Altar stand nach der ur-
sprünglichen Anlage nicht in ihm, sondern in
der Vierung der Mitte.8; Das Ostchor durfte also
in seiner Anlage nicht als Haupttheil erscheinen,
8) Roistn in den »Trierer Mittheilungen« II, 81 f.
Ein kleiner Altar stand im Ostchore an der Stelle des
jetzigen.