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1899. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 8.
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Funktionen in der äufseren Form zum Aus-
druck bringe, so dafs es dem Auge des Be-
schauers in ähnlicher Weise sich kundgebe wie
das starre Knochengerüst des Körpers unter
dem Spiel der Muskeln und Sehnen und den
weichen Linien der Haut. Die Forscher rühmen
gerade die Folgerichtigkeit und Strenge, mit
der in der Gothik alle Theile ihrer Stellung
und Aufgabe entsprechend gebildet und orna-
mental ausgestattet werden. Wahr ist freilich,
dafs dieses Streben nach Durchdringung und
Belebung der Massen, nach zweckentsprechender
Gestaltung der einzelnen Glieder im gothischen
Stile nicht zuerst auftritt, sondern bereits im
romanischen Stil, anfangs schüchtern, dann mit
steigender Kühnheit, sich kund gibt. Aber
wahr ist ebenfalls, dafs es den romanischen
Stil nicht vor dem gothischen auszeichnet, viel-
mehr dort erst anfängt zu wirken und zu ar-
beiten, bis es in der Gothik zum vollen Durch-
bruch kommt. Wie im Ei der Lebenskeim
so schlummert in dem romanischen Stil das
Organisationsprinzip der Gothik, wie das Vög-
lein wächst und erstarkt, indem es aus der es
umgebenden Hülle seine Nahrung nimmt, bis
es endlich, völlig herangereift, die jetzt über-
flüssige, ja hinderliche Schale sprengt und ab-
wirft, so wächst auch das Prinzip der Auflösung
und Organisirung der Massen in den romanischen
Werken heran, bis es die alte Hülle abstreift
und in neuem selbstgewirkten Gewände jugend-
frisch und frei hervortritt. Es ist der Geist
der Gothik, der im romanischen Stil noch in
fremden Lauten stammelt, bis er seine eigene,
aus seinem innersten Wesen geborene Sprache
ausgebildet hat, die in jedem folgenden Bau-
werk bestimmter ertönt, bis sie in den Bauten
der Blüthezeit der Gothik ihren reinsten und
vollendetsten Ausdruck gefunden hat.
In dieser vollendeten Formensprache der
Gothik, d. h. in der Früh- und Hochgothik,
hat man sehr wohl den Unterschied zwischen
tragenden und getragenen Gliedern hervortreten
lassen: die Säulen erweitern sich zum blumen-
geschmückten Knauf, der auf fester Platte die
ganz anders profilirten Bögen oder Rippen auf-
nimmt, die Säulenbündel sind von den Kapi-
talen wie von einem Band umschlossen, und
heben sich dadurch scharf von den auf ihnen
ruhenden Gliedern ab. Aber all' diese Theile
sind nicht mehr so gewaltig und schwer, wie
im romanischen Stil, die Säulen werden nicht
mehr von der Mauerlast schwer gedrückt,
sondern tragen gleichsam spielend auf ihren
zierlichen Köpfen die auf ihnen stehenden oder
aus ihnen emporwachsenden oberen Bauglieder.
Wenn aber infolgedessen die Träger leicht und
schlank gebildet werden können, wenn die
Deckplatte des Kapitals schmal wird und sich
zuweilen unter dem üppigen Blätterschmuck
fast verbirgt, so werden die Glieder dennoch
auf das Bestimmteste von einander geschieden,
so wird ihre verschiedene Aufgabe durch den
Unterschied in der Profilirung auf's Schärfste
hervorgehoben.
In der Spätgothik hat man freilich diesen
Unterschied zuweilen wieder verwischt, indem
man nicht nur bei dem Anschlufs der Arkaden-
bögen, sondern sogar beim Aufsetzen der Ge-
wölberippen die Kapitale ganz unterdrückte
und die Profilirungen unverändert vom Boden
aus bis zum Bogenschlufs aufsteigen liefs. In
ästhetischer Hinsicht ist das ein Rückschritt,
aber das gibt kein Recht, der Gothik über-
haupt den Vorwurf zu machen, als ob sie
tragende und getragene Glieder nicht genügend
unterschiede und der romanische Stil sie hierin
übertreffe.
Wird denn übrigens in den romanischen
Bauten der Gegensatz immer so klar betont?
Wir brauchen gar nicht an jene früh romanischen
Kirchen zu denken, in denen die Arkaden-
öffnungen einfach aus der flachen Wand heraus-
geschnitten sind; auch in den vollendetsten
Werken tritt er nicht immer scharf hervor. Im
Dom zu Mainz z. B. steigen die Arkadenträger
unverändert über den Anschlufs der Arkaden-
bögen und der Seitenschiffsgewölbe empor bis
unter die Fenster des Oberschiffes, wo sie
durch rundbogige Blenden sich vereinigen. Sie
scheinen gar nicht die Aufgabe zu haben, weit
früher eine schwere Last aufzunehmen, diese
ist gewissermafsen nur zwischen sie hineinge-
spannt, und die Bogenanfänge sind blofs durch
eine schmale Gesimsleiste angedeutet, welche
zudem an der Vorderseite der Hauptstützen nicht
einmal durchgeführt ist.
Nicht anders verhält es sich mit der An-
schauung, in der Gothik werde die Horizontale
ganz aufser Kraft und Geltung gesetzt, während
der romanische Stil sie mit der Vertikalen
kraftvoll zusammenwirken lasse. Richtig ist,
dafs die Vertikale den gothischen Stil im Gegen-
satz zum altchristlichen Basilikenstil beherrscht.
1899. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 8.
2b2
Funktionen in der äufseren Form zum Aus-
druck bringe, so dafs es dem Auge des Be-
schauers in ähnlicher Weise sich kundgebe wie
das starre Knochengerüst des Körpers unter
dem Spiel der Muskeln und Sehnen und den
weichen Linien der Haut. Die Forscher rühmen
gerade die Folgerichtigkeit und Strenge, mit
der in der Gothik alle Theile ihrer Stellung
und Aufgabe entsprechend gebildet und orna-
mental ausgestattet werden. Wahr ist freilich,
dafs dieses Streben nach Durchdringung und
Belebung der Massen, nach zweckentsprechender
Gestaltung der einzelnen Glieder im gothischen
Stile nicht zuerst auftritt, sondern bereits im
romanischen Stil, anfangs schüchtern, dann mit
steigender Kühnheit, sich kund gibt. Aber
wahr ist ebenfalls, dafs es den romanischen
Stil nicht vor dem gothischen auszeichnet, viel-
mehr dort erst anfängt zu wirken und zu ar-
beiten, bis es in der Gothik zum vollen Durch-
bruch kommt. Wie im Ei der Lebenskeim
so schlummert in dem romanischen Stil das
Organisationsprinzip der Gothik, wie das Vög-
lein wächst und erstarkt, indem es aus der es
umgebenden Hülle seine Nahrung nimmt, bis
es endlich, völlig herangereift, die jetzt über-
flüssige, ja hinderliche Schale sprengt und ab-
wirft, so wächst auch das Prinzip der Auflösung
und Organisirung der Massen in den romanischen
Werken heran, bis es die alte Hülle abstreift
und in neuem selbstgewirkten Gewände jugend-
frisch und frei hervortritt. Es ist der Geist
der Gothik, der im romanischen Stil noch in
fremden Lauten stammelt, bis er seine eigene,
aus seinem innersten Wesen geborene Sprache
ausgebildet hat, die in jedem folgenden Bau-
werk bestimmter ertönt, bis sie in den Bauten
der Blüthezeit der Gothik ihren reinsten und
vollendetsten Ausdruck gefunden hat.
In dieser vollendeten Formensprache der
Gothik, d. h. in der Früh- und Hochgothik,
hat man sehr wohl den Unterschied zwischen
tragenden und getragenen Gliedern hervortreten
lassen: die Säulen erweitern sich zum blumen-
geschmückten Knauf, der auf fester Platte die
ganz anders profilirten Bögen oder Rippen auf-
nimmt, die Säulenbündel sind von den Kapi-
talen wie von einem Band umschlossen, und
heben sich dadurch scharf von den auf ihnen
ruhenden Gliedern ab. Aber all' diese Theile
sind nicht mehr so gewaltig und schwer, wie
im romanischen Stil, die Säulen werden nicht
mehr von der Mauerlast schwer gedrückt,
sondern tragen gleichsam spielend auf ihren
zierlichen Köpfen die auf ihnen stehenden oder
aus ihnen emporwachsenden oberen Bauglieder.
Wenn aber infolgedessen die Träger leicht und
schlank gebildet werden können, wenn die
Deckplatte des Kapitals schmal wird und sich
zuweilen unter dem üppigen Blätterschmuck
fast verbirgt, so werden die Glieder dennoch
auf das Bestimmteste von einander geschieden,
so wird ihre verschiedene Aufgabe durch den
Unterschied in der Profilirung auf's Schärfste
hervorgehoben.
In der Spätgothik hat man freilich diesen
Unterschied zuweilen wieder verwischt, indem
man nicht nur bei dem Anschlufs der Arkaden-
bögen, sondern sogar beim Aufsetzen der Ge-
wölberippen die Kapitale ganz unterdrückte
und die Profilirungen unverändert vom Boden
aus bis zum Bogenschlufs aufsteigen liefs. In
ästhetischer Hinsicht ist das ein Rückschritt,
aber das gibt kein Recht, der Gothik über-
haupt den Vorwurf zu machen, als ob sie
tragende und getragene Glieder nicht genügend
unterschiede und der romanische Stil sie hierin
übertreffe.
Wird denn übrigens in den romanischen
Bauten der Gegensatz immer so klar betont?
Wir brauchen gar nicht an jene früh romanischen
Kirchen zu denken, in denen die Arkaden-
öffnungen einfach aus der flachen Wand heraus-
geschnitten sind; auch in den vollendetsten
Werken tritt er nicht immer scharf hervor. Im
Dom zu Mainz z. B. steigen die Arkadenträger
unverändert über den Anschlufs der Arkaden-
bögen und der Seitenschiffsgewölbe empor bis
unter die Fenster des Oberschiffes, wo sie
durch rundbogige Blenden sich vereinigen. Sie
scheinen gar nicht die Aufgabe zu haben, weit
früher eine schwere Last aufzunehmen, diese
ist gewissermafsen nur zwischen sie hineinge-
spannt, und die Bogenanfänge sind blofs durch
eine schmale Gesimsleiste angedeutet, welche
zudem an der Vorderseite der Hauptstützen nicht
einmal durchgeführt ist.
Nicht anders verhält es sich mit der An-
schauung, in der Gothik werde die Horizontale
ganz aufser Kraft und Geltung gesetzt, während
der romanische Stil sie mit der Vertikalen
kraftvoll zusammenwirken lasse. Richtig ist,
dafs die Vertikale den gothischen Stil im Gegen-
satz zum altchristlichen Basilikenstil beherrscht.