i78
©W WIE LERNEN WIR SEHEN? ^3
WIE LERNEN WIR SEHEN?
Von E. GUTENSOHN
Wie lernen wir sehen? Sonderbare Frage!
Indes brauche ich den verehrten Lesern
der »Christlichen Kunst« nicht erst ausein-
anderzusetzen, daß es sich in den folgenden
Ausführungen nicht um eine Anleitung handeln
wird, wie wir unser Auge in physischer Hin-
sicht zu möglichster Ausbildung bringen
können, so daß wir etwa lernen, nach In-
dianerart die Spuren im Sande oder Grase
zu verfolgen oder den Feind aus weitester
Entfernung zu erkennen, sondern daß wir
es mit dem ästhetischen, künstlerischen Sehen
zu tun haben werden.
Dabei sei aber auch nicht verhehlt, daß es
sich hier zunächst nicht um eine Anleitung
zur Betrachtung von Kunstwerken handeln
soll; diese finden wir reichlich in den Ab-
bildungen unserer Zeitschrift sowie theoretisch
in den Aufsätzen aus berufenen Künstler-
kreisen, es soll vielmehr der Versuch gemacht
werden, darzutun, wie der ästhetisch empfin-
dende Mensch befähigt wird, die Schönheiten
der Natur durch richtiges Beschauen zu ge-
nießen. Dabei leitet mich der Gedanke, daß
nicht jeder Gelegenheit hat, häufig Kunst-
werke im Original zu betrachten und sich
dadurch im künstlerischen Genuß zu vervoll-
kommnen —- solche Gelegenheit ist im all-
gemeinen nur in größeren Städten und Kunst-
zentren gegeben; — jedem aber ist die Mög-
lichkeit geboten, die Schönheiten der ihn
umgebenden Natur in sich aufzunehmen.
Freilich setzt sich der, der es unternimmt,
in einer Kunstzeitschrift Erörterungen über
einen solchen Gegenstand zu geben, der Ge-
fahr aus, daß er vielen Lesern längst Beob-
achtetes und oft Gesehenes vor das geistige Auge
führt, indes dürfte es doch für so manchen
nicht uninteressant sein, wenn das einmal
Gefühlte und in der Vorstellung Ruhende
durch das Wort wieder aufgefrischt und zu
lebendigem Bewußtsein gebracht wird.
Und über die Wichtigkeit unseres Gegen-
standes wird ein Zweifel kaum bestehen.
Gewiß hat Dr. Hermann Popp recht, wenn er
in seiner »Maler-Ästhetik«1) sagt: »Bestim-
mend für das Kunstverständnis eines Menschen
ist sein Verhältnis zur Natur, denn aus ihr
x) Popp Dr. Hermann; Maler-Ästhetik. Straßburg,
Heitz & Mündel, 1902.
K. J. BECKER-GUNDAHL RÖTELSTUDIE ZU EINEM BILD »DIE WALLFAHRER«
Galerie des Vereins bildender Künstler Münchens »Secession«; gezeichnet 1893
©W WIE LERNEN WIR SEHEN? ^3
WIE LERNEN WIR SEHEN?
Von E. GUTENSOHN
Wie lernen wir sehen? Sonderbare Frage!
Indes brauche ich den verehrten Lesern
der »Christlichen Kunst« nicht erst ausein-
anderzusetzen, daß es sich in den folgenden
Ausführungen nicht um eine Anleitung handeln
wird, wie wir unser Auge in physischer Hin-
sicht zu möglichster Ausbildung bringen
können, so daß wir etwa lernen, nach In-
dianerart die Spuren im Sande oder Grase
zu verfolgen oder den Feind aus weitester
Entfernung zu erkennen, sondern daß wir
es mit dem ästhetischen, künstlerischen Sehen
zu tun haben werden.
Dabei sei aber auch nicht verhehlt, daß es
sich hier zunächst nicht um eine Anleitung
zur Betrachtung von Kunstwerken handeln
soll; diese finden wir reichlich in den Ab-
bildungen unserer Zeitschrift sowie theoretisch
in den Aufsätzen aus berufenen Künstler-
kreisen, es soll vielmehr der Versuch gemacht
werden, darzutun, wie der ästhetisch empfin-
dende Mensch befähigt wird, die Schönheiten
der Natur durch richtiges Beschauen zu ge-
nießen. Dabei leitet mich der Gedanke, daß
nicht jeder Gelegenheit hat, häufig Kunst-
werke im Original zu betrachten und sich
dadurch im künstlerischen Genuß zu vervoll-
kommnen —- solche Gelegenheit ist im all-
gemeinen nur in größeren Städten und Kunst-
zentren gegeben; — jedem aber ist die Mög-
lichkeit geboten, die Schönheiten der ihn
umgebenden Natur in sich aufzunehmen.
Freilich setzt sich der, der es unternimmt,
in einer Kunstzeitschrift Erörterungen über
einen solchen Gegenstand zu geben, der Ge-
fahr aus, daß er vielen Lesern längst Beob-
achtetes und oft Gesehenes vor das geistige Auge
führt, indes dürfte es doch für so manchen
nicht uninteressant sein, wenn das einmal
Gefühlte und in der Vorstellung Ruhende
durch das Wort wieder aufgefrischt und zu
lebendigem Bewußtsein gebracht wird.
Und über die Wichtigkeit unseres Gegen-
standes wird ein Zweifel kaum bestehen.
Gewiß hat Dr. Hermann Popp recht, wenn er
in seiner »Maler-Ästhetik«1) sagt: »Bestim-
mend für das Kunstverständnis eines Menschen
ist sein Verhältnis zur Natur, denn aus ihr
x) Popp Dr. Hermann; Maler-Ästhetik. Straßburg,
Heitz & Mündel, 1902.
K. J. BECKER-GUNDAHL RÖTELSTUDIE ZU EINEM BILD »DIE WALLFAHRER«
Galerie des Vereins bildender Künstler Münchens »Secession«; gezeichnet 1893