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Deutsche Gesellschaft für Christliche Kunst [Hrsg.]
Die christliche Kunst: Monatsschrift für alle Gebiete der christlichen Kunst u. der Kunstwissenschaft sowie für das gesamte Kunstleben — 2.1905/​1906

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Huberti del Dalberg, G. K. L.: Die neuere religiöse Kunst Russlands
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https://doi.org/10.11588/diglit.53157#0262

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DIE NEUERE RELIGIÖSE KUNST RUSSLANDS ^3

DIE NEUERE RELIGIÖSE KUNST
RUSSLANDS
Die russische Kunst ist im wesentlichen
eine urwüchsige Blüte des nationalen
Bodens, ebenso wie die Literatur eine selb-
ständige Äußerung der russischen Volksseele.
Aber neben dieser Eigenart sind auch dort
all jene Richtungen und Spaltungen erkenn-
bar, wie sie der Reihe nach Westeuropa durch-
zogen haben. Nur ist davon die religiöse
Kunst am wenigsten berührt worden; hier
herrschte bis in unsere Zeit herein eine ruhige
geschlossene Tradition.
Als eine Art Grundtypus dieser russischen,
von oströmisch-byzantinischem Geist um-
witterten Kunstdarstellung darf man wohl
das kolossale Muttergottesbild aus Mosaik
bezeichnen, das auf der Altarwand der Sofia-
Kathedrale zu Kieff aus dem XL Jahrhundert
sich erhalten und im Volke und in der Litera-
tur unter dem Namen »Die unzerstörbare
Wand« bekannt ist. Es findet sein okziden-
tales Gegenstück in den gleichfalls von byzan-
tinischer Auffassung beeinflußten Mosaik-
Marienbildern bei San Marco in Venezia.
Diese in der Ikonographie des Ostens so-
genannte »Oranta« verkörperte neun Jahr-
hunderte hindurch für alle, die da kamen
und gingen, den ursprünglichen national-reli-
giösen Kunstgeschmack, und so wurde, viel-
leicht auch durch die Mosaiktechnik beein-
flußt, eine mehr und mehr überhandnehmende
Erstarrung das Hauptmerkmal alles Kunst-
schaffens auf diesem Gebiet. Nicht so sehr
seit Peter dem Großen, erst im vorigen Jahr-
hundert stoßen wir auf den Versuch von
Weiterbildungen und sehen ein Tasten nach
Entwicklung und Originalität.
An Stelle der Unterwerfung des schöpferi-
schen Geistes unter die Traditionen und Eigen-
tümlichkeiten der byzantinischen, mit orien-
talischen Motiven durchsetzten Kunst, die
einst den Grundstein gebildet hatte, an Stelle
der Gebundenheit durch die malerischen Dog-
men, die für die ganze Entwicklung bis zu
Ende des 17. Jahrhunderts maßgebend waren
und von denen die religiösen Maler nicht
abweichen durften, tritt das Bestreben zutage,
die altrussische Heiligenbildermalerei, wenn
nicht zu modernisieren, so doch neuen Wein
in die alten Schläuche zu gießen.
Von russischen Künstlern gelang es nach
dem Tode Katharinas II. den Historienmalern
Akimow und Ugrjumow, sich vor den
bislang begünstigten Franzosen eine Stellung
bei der Akademie zu erringen und ihr Können
unter anderem bei der Ausschmückung der

Kirchen in Petersburg zu bekunden. Später
war es der 1848 verstorbene Andrei Iwanow,
der für die Kasansche Kirche der Residenz
und die Zionskirche in Tiflis Heiligenbilder
und Ikonostase schuf. Auch Alexei Jego-
row, ein geborener Kalmücke, der 1851 in
Petersburg starb, zeichnete sich auf dem Ge-
biete der Kirchenmalerei aus, und Schebu-
j ew ist durch die Ausschmückung der Schloß-
kirche in Zarskoje Sselo allseitig bekannt ge-
worden.
Bilder religiösen Inhalts, in einer eigen-
tümlichen Verquickung romanischer und russi-
scher Art, beschäftigten in seinem höheren
Alter den von den Launen des Tagesge-
schmacks emporgetragenen und dann fallen ge-
lassenen Professor Karl Pa wlo witsch Brjul-
low^, hugenottischer Abstammung (1852 f).
Der aus einem italienischen Fedele Giovanni
in einen Fedor Antonowitsch verwandelte
Bruni, dessen Hauptwerk »Die Aufrichtung
der ehernen Schlange«, eines der größten
und mit seinen 60 Personen figurenreichsten
Bilder im Museum Kaiser Alexanders III. ist, hat
ebenfalls später mehrere Bilder für die Isaak-
und die Kasansche Kathedrale vollendet (187 5 f).
Eine der originellsten Schöpfungen des 1900
verstorbenen Landschaftsmalers J. K. Aiwa-
sowsky stellt die »Sündflut« dar. Eine an-
dere die »Flucht der Juden durch das Rote
Meer. Von dem Meister der Tendenzmalerei
W. W. Wereschtschagin, der im russisch-
japanischen Krieg 1904 ein so schreckliches
Ende fand, wären jene Bilder zu erwähnen,
wie Napoleons Soldaten die alten Kirchen
Moskaus plündern und die heiligen Stätten
in Küchen und Pferdeställe verwandeln.
Auf dem Gebiete der Bildhauerkunst hat
sich der 1902 verstorbene Antokolsky in
originellen Phantasiegestalten des religiösen
Empfindens aus den bescheidensten Verhält-
nissen heraus mit eisernem Fleiß eine viel-
bewunderte Meisterschaft errungen. Im Ale-
xander-Museum für russische Kunst fesselt
vor allem die von ihm geschaffene Gestalt
des Dämons oder Satans, der auf einem öden
Felsen sitzt, die knochigen Krallenhände und
das Kinn auf das Knie des hochgezogenen
rechten Beines stützt, während der Ausdruck
der schielenden Augen einen Abglanz der
Freude an der Vernichtung und an der Macht
des Bösen erkennen läßt. An künstlerischer
Bedeutung kommt ihm jetzt »Luzifer« nahe,
der in München und Wien so großes Auf-
sehen erregte, ein Meisterwerk der aus einer
wolhabenden Familie Moskaus stammenden,
jedoch in Wien ansäßigen jugendlichen Bild-
hauerin Therese Feodorowna Ries.
 
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