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EW WIE LERNEN WIR SEHEN? mö
an ihr nicht beachtet; der weiße Schnee in der
Umgebung zeigt sie uns. Ist der Schnee
von der Sonne beleuchtet, so wird die Mauer
mit ihren schmutzigen Farben vielleicht nicht
ästhetisch wirken, anders aber, wenn der
Himmel bedeckt ist, wodurch die Gegensätze
in der Farbe gemildert werden. Von den
Winterstimmungen haben ästhetische Wirkung
insbesondere das Tauwetter, der Rauhreif, der
uns silberne Blüten an die Bäume zaubert,
und der helle Wintertag, wo die Schneedecke
im Sonnenglanze flimmert und glitzert. Der
Sonnenauf- und -Untergang malt oft die zar-
testen Farben und Schatten auf das Schnee-
feld, die mit zu den schönsten Erscheinungen
in der Natur zählen.
So wird die Natur im Wechsel der Jahres-
zeiten mit ihren mannigfaltigenVeränderungen
in Farbe, Luft und Licht dem sinnigen Be-
schauer immer wieder neue Reize in uner-
schöpflicher Fülle vor Augen führen. Wer
aber in der Natur recht sehen lernen, wer
besonders die Eindrücke des Erhabenen voll
auf sich wirken lassen will, der gewöhne sich
auch, der Natur ganz allein gegenüber zu
treten. Da wird sie ganz anders zu ihm sprechen,
als wenn eine schwatzende Reisegesellschaft
die Betrachtung stört. Es gibt freilich gar
viele, die es nicht lieben, in der Natur allein
zu sein, besonders dort nicht, wo sie in ihrer
völligen Einsamkeit und Ursprünglichkeit
ihnen wie etwas Fremdes gegenübersteht. Zur
vollen Befriedigung ihres ästhetischen Sinnes
suchen sie in der Natur irgend eine Beziehung
zum Menschen auf, wäre es auch nur ein
Fußweg, eine Hütte, welche die ihnen unfreund-
lich erscheinende Abgeschlossenheit der Natur
mildern. Dieser Gemütszustand bei Erwach-
senen ist wohl analog der Furcht, die das
Kind fühlt, wenn es sich ganz allein weiß.
Wer aber mit der Natur innig vertraut ge-
worden ist, den kann ein solches Gefühl
höchstens in einer ganz »wildfremden« Gegend
beschleichen, wo Gefahren nicht ausgeschlossen
sind, wie etwa im Hochgebirge, sonst wird er
aber auch gerne abgeschiedene, friedevolle
Plätzchen aufsuchen, um sich dem Zauber
der Natur ungestört hingeben zu können.
Diese Hingabe an den Naturgenuß ver-
stehen nun manche wieder so, daß sie meinen,
sich in alle möglichen Details verlieren zu
müssen. Es ist dies ebenso verkehrt, wie
wenn man, vor einem Bilde stehend, jede
kleinste Einzelheit heraussucht, um dann unbe-
friedigt wegzugehen, »weil der Maler es nicht
deutlich gemalt hat«. Der natürliche Weg ist
der: Zuerst erscheint ein allgemeiner Eindruck,
von diesem gelangt man ins Einzelne — aber
nicht ins Kleinliche! — um schließlich das
Ganze wieder zu einem Totaleindruck zusam-
menzufassen. Dieser läßt uns dann die Stim-
mung in Natur und Bild inne werden.
So führt die Naturbetrachtung uns von
selbst zur Bilderbetrachtung, die Natur zur
Kunst. Es mag daher nicht unangebracht
erscheinen, auch auf das Verhältnis von Natur
und Kunst etwas hinzuweisen. (Schluß folgt)
EIN WORT ZUR ERMUNTERUNG
Auf der 52. Generalversammlung der Katho-
liken Deutschlands zu Straßburg i. Els. sprach Kanonikus
Meyenberg, Professor der Theologie in Luzern, über die
Pflicht der Katholiken zur Teilnahme an Wissenschaft
und Kunst. Als Pflicht der Katholiken bezeichnete es
der Redner: 1. Front zu machen gegenüber dem Siech-
tum einer Kunst, welche die Sünde, die rohe Sinnlich-
lichkeit, den Niedergang verherrliche. 2. Entfaltung des
ganzen Reichtums der Ideale der katholischen Gottes-
und Weltanschauung. 3. Sinn für ein unseren Verhält-
nissen entsprechendes Mäcenatentum der Kirche, der
Gemeinden und Korporationen, des Staates und der
hochgestellten Kreise. 4. Offener Sinn für die Freiheit
und Neuheit auf dem Gebiete der Kunst. Redner führte
aus, die Pflicht der Anteilnahme der Katholiken dränge
jetzt doppelt. Auch die katholischen Künstler müßten
Sinn und Verständnis haben für die Fortschritte und
Technik eines gesunden Realismus, einer Wirklichkeits-
schilderung des Menschenlebens und eines vielleicht auch
ankommenden neuen Stiles. Aber sie müssen laut mit
Wort und Tat verkünden: auch die latenten Ideale, die
im Menschenleben liegen, die namentlich auch im wirk-
lichen katholischen Leben liegen, sind real und müssen
geschildert werden. Der Geist ist real, Religion und
Gott sind das allerrealste.
Unter dem Titel: »Brennende Fragen« gibt Kanonikus
Meyenberg im Verlage von Raeber & Cie eine Reihe von
Vorträgen heraus, deren erster seit einiger Zeit vorliegt und
die »Pflicht der Anteilnahme der Katholiken an
Wissenschaft und Kunst« zum Gegenstände hat.
Diese Abhandlung gibt das oben erwähnter Rede zu-
grunde liegende ursprüngliche Manuskript wieder, das
aber im zweiten Teile, der über die Kunst handelt, eine
viel eingehendere Darstellung bietet. An dieser Stelle
verweisen wir auf S. 62, wo es heißt: »Schlagen wir
die werdenden Talente ob einiger Extravaganzen nicht
tot! Suchen wir vielmehr edeln Einfluß auf sie zu ge-
winnen. Gedenken wir der großen Seiten des alten
katholischen Mäcenatentums! . . . Streuet die Lebens-
formen katholischer Wissenschaft und Kunst in das
moderne Ringen — und wo die moderne Welt euch
echte Technik und Stimmung bietet, beseelt diese mit
religiösen und profanen Edelidealen.«
Für die Redaktion verantwortlich: S. Staudhamer; Verlag der Gesellschaft für christl. Kunst, G. m. b. H.
Druck von Alphons Bruckmann. — Sämtliche in München.
EW WIE LERNEN WIR SEHEN? mö
an ihr nicht beachtet; der weiße Schnee in der
Umgebung zeigt sie uns. Ist der Schnee
von der Sonne beleuchtet, so wird die Mauer
mit ihren schmutzigen Farben vielleicht nicht
ästhetisch wirken, anders aber, wenn der
Himmel bedeckt ist, wodurch die Gegensätze
in der Farbe gemildert werden. Von den
Winterstimmungen haben ästhetische Wirkung
insbesondere das Tauwetter, der Rauhreif, der
uns silberne Blüten an die Bäume zaubert,
und der helle Wintertag, wo die Schneedecke
im Sonnenglanze flimmert und glitzert. Der
Sonnenauf- und -Untergang malt oft die zar-
testen Farben und Schatten auf das Schnee-
feld, die mit zu den schönsten Erscheinungen
in der Natur zählen.
So wird die Natur im Wechsel der Jahres-
zeiten mit ihren mannigfaltigenVeränderungen
in Farbe, Luft und Licht dem sinnigen Be-
schauer immer wieder neue Reize in uner-
schöpflicher Fülle vor Augen führen. Wer
aber in der Natur recht sehen lernen, wer
besonders die Eindrücke des Erhabenen voll
auf sich wirken lassen will, der gewöhne sich
auch, der Natur ganz allein gegenüber zu
treten. Da wird sie ganz anders zu ihm sprechen,
als wenn eine schwatzende Reisegesellschaft
die Betrachtung stört. Es gibt freilich gar
viele, die es nicht lieben, in der Natur allein
zu sein, besonders dort nicht, wo sie in ihrer
völligen Einsamkeit und Ursprünglichkeit
ihnen wie etwas Fremdes gegenübersteht. Zur
vollen Befriedigung ihres ästhetischen Sinnes
suchen sie in der Natur irgend eine Beziehung
zum Menschen auf, wäre es auch nur ein
Fußweg, eine Hütte, welche die ihnen unfreund-
lich erscheinende Abgeschlossenheit der Natur
mildern. Dieser Gemütszustand bei Erwach-
senen ist wohl analog der Furcht, die das
Kind fühlt, wenn es sich ganz allein weiß.
Wer aber mit der Natur innig vertraut ge-
worden ist, den kann ein solches Gefühl
höchstens in einer ganz »wildfremden« Gegend
beschleichen, wo Gefahren nicht ausgeschlossen
sind, wie etwa im Hochgebirge, sonst wird er
aber auch gerne abgeschiedene, friedevolle
Plätzchen aufsuchen, um sich dem Zauber
der Natur ungestört hingeben zu können.
Diese Hingabe an den Naturgenuß ver-
stehen nun manche wieder so, daß sie meinen,
sich in alle möglichen Details verlieren zu
müssen. Es ist dies ebenso verkehrt, wie
wenn man, vor einem Bilde stehend, jede
kleinste Einzelheit heraussucht, um dann unbe-
friedigt wegzugehen, »weil der Maler es nicht
deutlich gemalt hat«. Der natürliche Weg ist
der: Zuerst erscheint ein allgemeiner Eindruck,
von diesem gelangt man ins Einzelne — aber
nicht ins Kleinliche! — um schließlich das
Ganze wieder zu einem Totaleindruck zusam-
menzufassen. Dieser läßt uns dann die Stim-
mung in Natur und Bild inne werden.
So führt die Naturbetrachtung uns von
selbst zur Bilderbetrachtung, die Natur zur
Kunst. Es mag daher nicht unangebracht
erscheinen, auch auf das Verhältnis von Natur
und Kunst etwas hinzuweisen. (Schluß folgt)
EIN WORT ZUR ERMUNTERUNG
Auf der 52. Generalversammlung der Katho-
liken Deutschlands zu Straßburg i. Els. sprach Kanonikus
Meyenberg, Professor der Theologie in Luzern, über die
Pflicht der Katholiken zur Teilnahme an Wissenschaft
und Kunst. Als Pflicht der Katholiken bezeichnete es
der Redner: 1. Front zu machen gegenüber dem Siech-
tum einer Kunst, welche die Sünde, die rohe Sinnlich-
lichkeit, den Niedergang verherrliche. 2. Entfaltung des
ganzen Reichtums der Ideale der katholischen Gottes-
und Weltanschauung. 3. Sinn für ein unseren Verhält-
nissen entsprechendes Mäcenatentum der Kirche, der
Gemeinden und Korporationen, des Staates und der
hochgestellten Kreise. 4. Offener Sinn für die Freiheit
und Neuheit auf dem Gebiete der Kunst. Redner führte
aus, die Pflicht der Anteilnahme der Katholiken dränge
jetzt doppelt. Auch die katholischen Künstler müßten
Sinn und Verständnis haben für die Fortschritte und
Technik eines gesunden Realismus, einer Wirklichkeits-
schilderung des Menschenlebens und eines vielleicht auch
ankommenden neuen Stiles. Aber sie müssen laut mit
Wort und Tat verkünden: auch die latenten Ideale, die
im Menschenleben liegen, die namentlich auch im wirk-
lichen katholischen Leben liegen, sind real und müssen
geschildert werden. Der Geist ist real, Religion und
Gott sind das allerrealste.
Unter dem Titel: »Brennende Fragen« gibt Kanonikus
Meyenberg im Verlage von Raeber & Cie eine Reihe von
Vorträgen heraus, deren erster seit einiger Zeit vorliegt und
die »Pflicht der Anteilnahme der Katholiken an
Wissenschaft und Kunst« zum Gegenstände hat.
Diese Abhandlung gibt das oben erwähnter Rede zu-
grunde liegende ursprüngliche Manuskript wieder, das
aber im zweiten Teile, der über die Kunst handelt, eine
viel eingehendere Darstellung bietet. An dieser Stelle
verweisen wir auf S. 62, wo es heißt: »Schlagen wir
die werdenden Talente ob einiger Extravaganzen nicht
tot! Suchen wir vielmehr edeln Einfluß auf sie zu ge-
winnen. Gedenken wir der großen Seiten des alten
katholischen Mäcenatentums! . . . Streuet die Lebens-
formen katholischer Wissenschaft und Kunst in das
moderne Ringen — und wo die moderne Welt euch
echte Technik und Stimmung bietet, beseelt diese mit
religiösen und profanen Edelidealen.«
Für die Redaktion verantwortlich: S. Staudhamer; Verlag der Gesellschaft für christl. Kunst, G. m. b. H.
Druck von Alphons Bruckmann. — Sämtliche in München.