EIN NEUES MADONNENBILD JAN GOSSAERTS
Vor kurzem ift mir aus weftdeut-
fchem Privatbefiß ein Madonnenbild
bekannt geworden, das im Zufam-
menhange mit der langen Reihe von
Kopien lebhaftes Intereffe erweckt.
Es ift in die Sammlung des Herrn
v. Hotlitfcher in Berlin Cbergegangen,
mit deffen gütiger Erlaubnis ich den
Fachgenoffen hier eine Abbildung
davon vorlege.
Diefe kleine Tafel — 25 X 18,5 cm —
ift ganz gewiß ein Original von Jan
Goffaert, der in reifer, aber nicht fpä-
terZeit, alfo um 1520 nichts Befferes
gefchaffen hat. Die Ausführung ift
präzife und von jener Meifterfchaft
im Maltedinifchen, über die der felbft-
bewußte Virtuofe ftets verfügte. Das
bisher unbekannte Bild hebt fich be-
deutfam aus der Menge der Kopien,
mit denen es in der Kompofition ver-
wandt ift. Der Grund ift neutral und
dunkel. Maria ift ganz in graublau
gekleidet. Das Haar ift afchblond, das
Fleifch weißlich, die Tifchdecke von
ausgeblichenem Rot. Das Ganze wirkt
harmonifch in der entfehieden kühlen
Tönung.
Wie fo oft, wenn man etwas fin-
det: es ift nicht genau das, was man
gefucht hat. Wenn auch das Berliner Gemälde die Autorfdiaft Goffaerts an dem Bild-
gedanken aufs Schönfte beftätigt, erhebt fich fogleich die Frage: ift mit diefem Ori-
ginal das Urbild zu jener Gruppe von Kopien und Nachahmungen wirklich
gefunden ?
Die neue Kompofition erfcheint neben der längft bekannten befcheiden. Das Haupt-
motiv ift hier nicht fo gefallfüchtig zum Außerften getrieben. Dort fällt der Kopf-
fchleier der Madonna erft dachartig auf das Haupt des Kindes, fchlingt fich um den
Leib Chrifti und nimmt dann immer noch kein Ende — in faft ornamentaler Aus-
fchwingung. Hier ein anmutiges Motiv aus der Kinderftube — der Knabe hebt fpielend
das Kopftuch der Mutter oder verfteckt fich darunter —, ift es dort unmäßig und ge-
waltfam ausgefponnen, indem das Kind fich ftrampelnd eines Kataraktes von Lein-
wand zu erwehren fcheint.
Andere Abweichungen werden im Blick der Mutter gefunden und in der Beinftellung
des Kindes, die hier etwas zaghaft und vielleicht nidit ganz geglückt, dort dreift und
allzu akrobatifdi erfcheint.
Betrachten wir die gefamte Änderung, alfo alles, was den Kopien gegenüber dem
Berliner Originale gemeinfam ift, als Umarbeitung eines Nachahmers, fo könnten nicht
JAN GOSSAERT
Kupferftich.
124
Vor kurzem ift mir aus weftdeut-
fchem Privatbefiß ein Madonnenbild
bekannt geworden, das im Zufam-
menhange mit der langen Reihe von
Kopien lebhaftes Intereffe erweckt.
Es ift in die Sammlung des Herrn
v. Hotlitfcher in Berlin Cbergegangen,
mit deffen gütiger Erlaubnis ich den
Fachgenoffen hier eine Abbildung
davon vorlege.
Diefe kleine Tafel — 25 X 18,5 cm —
ift ganz gewiß ein Original von Jan
Goffaert, der in reifer, aber nicht fpä-
terZeit, alfo um 1520 nichts Befferes
gefchaffen hat. Die Ausführung ift
präzife und von jener Meifterfchaft
im Maltedinifchen, über die der felbft-
bewußte Virtuofe ftets verfügte. Das
bisher unbekannte Bild hebt fich be-
deutfam aus der Menge der Kopien,
mit denen es in der Kompofition ver-
wandt ift. Der Grund ift neutral und
dunkel. Maria ift ganz in graublau
gekleidet. Das Haar ift afchblond, das
Fleifch weißlich, die Tifchdecke von
ausgeblichenem Rot. Das Ganze wirkt
harmonifch in der entfehieden kühlen
Tönung.
Wie fo oft, wenn man etwas fin-
det: es ift nicht genau das, was man
gefucht hat. Wenn auch das Berliner Gemälde die Autorfdiaft Goffaerts an dem Bild-
gedanken aufs Schönfte beftätigt, erhebt fich fogleich die Frage: ift mit diefem Ori-
ginal das Urbild zu jener Gruppe von Kopien und Nachahmungen wirklich
gefunden ?
Die neue Kompofition erfcheint neben der längft bekannten befcheiden. Das Haupt-
motiv ift hier nicht fo gefallfüchtig zum Außerften getrieben. Dort fällt der Kopf-
fchleier der Madonna erft dachartig auf das Haupt des Kindes, fchlingt fich um den
Leib Chrifti und nimmt dann immer noch kein Ende — in faft ornamentaler Aus-
fchwingung. Hier ein anmutiges Motiv aus der Kinderftube — der Knabe hebt fpielend
das Kopftuch der Mutter oder verfteckt fich darunter —, ift es dort unmäßig und ge-
waltfam ausgefponnen, indem das Kind fich ftrampelnd eines Kataraktes von Lein-
wand zu erwehren fcheint.
Andere Abweichungen werden im Blick der Mutter gefunden und in der Beinftellung
des Kindes, die hier etwas zaghaft und vielleicht nidit ganz geglückt, dort dreift und
allzu akrobatifdi erfcheint.
Betrachten wir die gefamte Änderung, alfo alles, was den Kopien gegenüber dem
Berliner Originale gemeinfam ift, als Umarbeitung eines Nachahmers, fo könnten nicht
JAN GOSSAERT
Kupferftich.
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