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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 4.1888-1889

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Heilbut, Emil: Über die Kunst in England, [6]
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https://doi.org/10.11588/diglit.9419#0217

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Über die Kunst in England

16«

Rasse. Und das macht bei uns das konträre, romantische
Blut. Sie sind klassisch, und klassisch sind sie gut, aber
wenn sie romantisch werden, werden sie kindisch. Dann
glauben sie, es wäre etwas Ungeheures damit ausgesprochen,
daß sie die römische Klassizität vorher abstreiften, (die wir
gar nicht gelten lassen), das wäre ein Wagnis ohnegleichen,
eine That ohne Beispiel. Und sie rennen dann die
offensten Thüren mit den längsten Lanzen Don Quixotes
ein. Sie Wundern sich über ihren Scharfsinn, wenn sie
die Entdeckung machen, daß die llcole cke Uome eine
römische Schule ist. Und eine Mücke, wenn sie nur un-
regelmäßige Beine hat, würde ihnen, wenn sie aufgeregt
sind, schon als Mücke von romantischer Gestalt er-
scheinen. So sehr imponiert ihnen die Unregelmäßigkeit,
die bei ihnen eine Rarität ist. Wir, nous untres ^Ile-
mancks, müssen uns freilich beugen, wenn es den Stil der
Klassizität betrifft, darin haben wir nichts ihnen entgcgcn-
zusetzcn; aber in der Romantik sind wir Spezialisten.
Wir haben die ganze Tradition derselbe», und eine so
große Phantastik liegt hinter uns, und wir sind darin
abgebrühte Kenner und wir finden vieles schon hergebracht,
über das sie sich immer noch zu wundern anfangen. Das
ungewöhnlich erscheinende bietet ihren Schriftstellern ein
umso ausgiebigeres Feld der Klopffechterei, als es den
Lesern in Frankreich ein unbekanntes Land ist. Sie er-
heben sich entweder für oder gegen den Gegenstand und
in keinem Gebiete sind vielleicht gleich große Übertreibungen
bei ihnen zu Tage getreten. Wie sie Turner überschätzen,
wird auch E. T. A. Hoffmann bei ihnen mehr gelesen,
oder jedenfalls mehr geschätzt, als bei uns und ein
Franzose, der Romantiker ist, ist nicht mehr im Besitz
jener durchsichtigen Klarheit, die die Franzosen anszeichnet,
welche ihrer Rasse treu bleiben. Sie verlieren ihr Bestes,
wenn sie abirren. So bilden sie Pendants zu unserm
Turner.

Warum unter den Engländern Ruskin, der gewaltige
Lehrer des Volks, dessen Schultern die ganze Kunst-
bildung der Nation tragen, der in herrlichen Gedanken
der Natur und nur der Natur, der Aufrichtigkeit und nur
der Aufrichtigkeit das Wort redet — und welches Wort!
er ist vielleicht oratorisch der größte Kunstschriftsteller der
Zeit — warum Ruskin vor Turner all seiner Voraus-
setzungen zur Kunst sich entledigt und ihm eine ungemessene,
enthusiastische Bewunderung trotz Turner zollt, würde ich
nicht begreifen können, wenn ich mir nicht sagte, erstens,
daß auch Ruskin schließlich ein Engländer ist, der seine
goldensten Worte im Nebel sprechen muß, und zweitens,
daß einmal ganz abnorm es an jeglicher Logik fehlen zu
lassen, als Vorrecht Jener gelten darf, welche selten irren.

Es ist nicht leicht, sich Turner schnell zu entziehen.
Hat man lange vor seinen Phantasmagorien gestanden,
ist der Blick geblendet; wollte man nach ihnen die puren
Klassiker aufsuchen, wäre man schlecht gestimmt sie auf
sich wirken zu lassen; wie denn auch kein Konzertdirektor
nach einem Berlioz uns Mozart auftischen würde. So-
bald man aber nach Turner zu Rembrandt geht, kann

man von Rembrandt wieder zu jedem Klassiker gehen,

man sist, als ob man wieder Brot gegessen hätte, dann

im stände, auch einfacheren Speisen frische Reize abzu-
gewinnen. Das macht, weil Rembrandt, der charmante
Maler, sofort auf Turners eigenem Felde ihm gegenüber-
treten kann und ihn schlägt, und weil Rembrandt, der
große Mann, mit den andern großen Männern durch

das Fühlen und das Menschliche, durch die ewigen Güter,
sich verbindet. Turner aber ist nur Charmeur. Und
das legt sich dann sofort auf die Seele, wenn es einem
gelungen ist, ihm den Rücken zu kehren. Das letzte, das
Kunstwerke besitzen müssen, fehlt ihm. Ich kann es einem
Deutschen vielleicht am verständlichsten machen, wenn ich
sage, daß zuweilen die Turnerschen Bilder, zumal wenn sie
kleinere Aquarelle sind, wohl einen Gedanken an Ed. Hilde-
brand erwecken, der schlankweg Tropen malt. Was fehlend
ist, haben sie gemein, worin sie exzellieren, darin ist Turner
unendlich größer. Vielleicht verhält sich Hildebrand zu
ihm in einer Proportion, wie sich zu Byron -— allein
im „Weltschmerz" meine ich — Heinrich Heine verhält:
heute noch genießbarer, aber unbedeutender.

Ich würde eine sehr schlechte Charakteristik geben,
wenn ich beim Lesenden einen Glauben zuließe, Turner
wäre ein dem Flitter, dem Schein nachjagender Mann
gewesen. Das ist durchaus nicht, er ist ein prachtvoller
Mensch. Völlig gewichtig und gediegen, ehrenfest, fast
Philister. Und Philister, wenn sie eine große Sache aus-
genommen haben, sind eine herrliche Menschenklasse; Old-
England hat gerade unter ihnen Männer gefunden, auf
welche es mit dem gerechtesten Stolz blicken darf. Über-
haupt ist der „Künstlcrschlag" im alten England ein völlig
anderer, als bei uns, oder gar als in Frankreich. Vielleicht
eben weil sich so selten bei ihnen Künstler willig finden,
sind diese wenigen dann auch immer auserwählt. Im
früheren England könnte von einer Überproduktion auf
diesem Gebiet nicht gesprochen werden; heute freilich ist es bei
ihnen anders geworden und die moderne Kunstübung bei
ihnen unterscheidet sich darin nicht mehr von der kontinentalen.
Vormals waren aber die wenigen Künstler, die sie hatten,
immer merkwürdige Menschen; Leute, die, weil sie sich
entschlossen hatten, den ungewöhnlichen Beruf zu ergreifen,
auch immer auf etwas Wesentlichem für solche Wahl
fußten, jeder etwas Besonderes mitzuteileu hatten. Sie
waren allesamt interessante, und nicht bloß interessante,
auch immer charaktervolle Persönlichkeiten. Unter allen
älteren namhafteren Künstlern ist vielleicht nur einer, der
in nicht geordneten Verhältnissen lebte: George Morland,
ein Pferde- und Kneipenmaler, der 1804 starb.

/ Bei Turner ist das gute Philistertum nun natürlich
mit Wunderlichkeit verquickt, Wunderlichkeit schließt das
Philistertum nicht ans; es könnte ein E. T. A. Hoff-
mannscher Held ganz gut Philister sein; ich bedauerte
sehr, Turners Haus nicht mehr sehen zu können, es ist
niedergerissen; in ihm hat er die letzten vierzig Jahre
seines Lebens verbracht. Es ist nicht unnütz zu Turners
Charakteristik, den Leser hineinzuführen. Turner war
griesgrämig und unverheiratet; nicht eben leicht, zu ihm zu
gelangen. Er besaß eine Haushälterin, die ihn vor un-
gewünschten Besuchen sicherte, noch griesgrämiger als er.
Der Herr Gillot wollte einst zu ihm — selber ein Ori-
ginal, ein Mann, der fleißig mit seiner Frau arbeitend,
sich von einem kleinen Handarbeiter zu einem der großen
Industriellen von Birmingham gemacht hatte, nun sehr
reich war, viel für Bilder und seltene Pflanzen und alte
Geigen ausgab und zum »tavorile solle« erwählt hatte:
das beste jeder Sache ist eben gut genug für mich —
dieser Herr Gillot kam in Turners Wohnung mit der
Hoffnung, ihn zu bestimmen, daß er ihm von seinen
Bildern verkaufe. Tenn Turner war sehr schwierig und
trennte sich nicht leicht mehr von ihnen, wenn er sie ein-
 
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