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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 49.1933-1934

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Christoffel, Ulrich: Wo stehen wir heute in der Kunst?
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https://doi.org/10.11588/diglit.16481#0268

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Vertrautheit der vier Wände, die dem deutschen
Menschen immer am nächsten liegen, geordnet
werden. Das Wunschbild des Jugendstiles hat sich
inzwischen verwirklicht. Das heutige Bauen beruht
auf der verinnerlichten Sachlichkeit der Baugestal-
tung und der Raumbildung. Durch eine weitere
Entwicklung, die die künstlerische Sachlichkeit zu
einer hygienisch sozialen Zweckmäßigkeit ent-
äußern wollte, ist inzwischen schon eine Gefahren-
zone der künstlerischen Kultur erreicht worden.
Die ,,Wohmnaschine" ist nicht etwa in Rußland,
sondern in den konservativsten, bürgerlichsten Län-
dern des Westens, in Holland und Frankreich, er-
funden worden. Sie wollte in die Primitivität der
Fischerhütten mit der modernen Wohntechnik auch
das konstruktivistische Kalkül eines eleganten Reiß-
brettesprits hineinschmuggeln. Die deutschen Schü-
ler von Oud und Corbusier übersahen die Gelegen-
heit, den kühnen technischen Gedanken der neuen
Bauweise an die Uberlieferung des deutschen Bau-
ernhauses zu verpflanzen, das einen höchstentwik-
kelten Kulturtypus eines einfachen, erdnahen, le-
bensverbundenen Wohnens darstellt, wie er den ro-
manischen Völkern gänzlich fehlt. Durch die ober-
flächliche Nachahmung des fremden \ orbildes
konnten sie die höhere Lebenshaltung des deutschen
Arbeiters nur auf die tiefere des westlichen Arbei-
ters herunterdrücken. In den neuen Wohnbauten,
die immerhin von begabten und wagemutigen
Architekten erbaut wurden, erfuhr die Idee der
Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit eine so ab-
strakte Mißdeutung, daß vom Hause schließlich nur
mehr ein leeres Skelett stehen blieb, wie in der Ma-
lerei bisweilen die Bildhaftigkeit zu einer unver-
ständlichen Liniengeometrie verdünnt wurde. Es
steckt ein merkwürdig muckerisches Puritaner- und
Asketentum in dieser neusachlichen Kunst. Trotz-
dem wurde durch die Corbusierarchitektur, durch
Wegräumen des Alten und Wegdenken des Uber-
lebten reiner Tisch gemacht, und die jungen Bau-
künstler stehen nun vor der glücklichen Situation
und verheißungsvollen Aufgabe, daß sie von vorne
anfangen und alle Möglichkeiten einer ideellen
künstlerischen Baugestaltung ausschöpfen können.
In Deutschland ist aber die aus dem einfachen
Wohnbau entstandene Konstruktionsbauweise so-
fort auf die großen Bauaufgaben der Schulen, Kir-
chen, Theater, Sportsanlagen übertragen worden,
und das Nützliche wurde dadurch in die Phantasie-
weit der künstlerischen Proportionen, der beweg-
lichen Körpergruppierung und der Gestaltung von
Licht, Raum und Höhe erhoben, so daß durch diese
sozusagen unsichtbaren Wirkungsmittel der Archi-
tektur der kommenden deutschen Baukunst weit-
gehend vorgearbeitet wurde.

Durch die langsame Ablösung der deutschen Kunst
von den fremden Einflüssen und die Verinner-
lichung und Versachlichung des Formempfindens
sind heute sehr günstige Vorbedingungen für eine

neue Kunst gegeben, und auch die merkwürdige
Tatsache, daß die ,,unkünstlerische" Zeit der Grün-
derperiode ein hervorragendes Geschlecht von Ma-
lern und Bildhauern hervorgebracht hat, während
die Malerei und Bildhauerei der Gegenwart be-
sonders in Paris einem trostlosen Leerlauf des For-
malen und einem kränklichen Manierismus ver-
fallen sind, kann die Fruchtbarkeit des heutigen
Momentes nicht beeinträchtigen. Wenn man die
verwickelten geistigen Hintergründe des sogenann-
ten Expressionismus einmal vergißt, und nur die
einzelnen Landschaften von Marc, Nolde, Heckel,
Kokoschka und Lauterburg als Farbe und Ton auf
sich wirken läßt, dann fühlt man aus diesen dunk-
len, dumpfen Farben oft ein geheimnisvolles Erin-
nern aufglühen, das uns in seinem zaghaften oder
verquälten Ausdruck menschlich tiefer berührt als
alle bürgerliche Freundlichkeit der impressionisti-
schen Meisterwerke. Es sind wenige Bilder, von
denen man das sagen kann, aber diese wenigen sind
in der altdeutschen Vergangenheit verwurzelt, wo
der Ausdruck der Erregung und des Leidens in den
Köpfen von Bamberg und Naumburg, von Grüne-
wald, Schlüter und Cornelius immer nur im Häß-
lichen, Charaktervollen. Kranken und Seherhaften
einen Ausweg gesucht hat, nie im Schönen. Es ist
eine Tatsache, daß die geistige Spannkraft des
Häßlichen sich nicht so schnell abschwächt wie die
des Schönen. Der Ausdruck des Häßlichen, das nicht
mit dem Proletarisch-Niedrigen verwechselt wer-
den darf, das eine gewisse Kunst der letzten 15 Jahre
mit fanatisch boshafter Entstellung dargestellt
hat, wirkte wie ein Protest gegen eine laue, glatte
Behaglichkeit, die sich auf den Trümmern der alten
Zeit niederlassen wollte, als ob nichts geschehen
wäre. Das Häßliche, soweit sich darin der lebendige
Widerstand des Geistes gegen die Leere offenbart,
steht dem Herzen aller deutschen Kunst jedenfalls
näher als die Gesellschaftskunst der malerischen
Bravourzeit. Daß die aufgewühlte, subjektive Aus-
drucksmalerei der Corinth, Münch, Nolde in einer
Zeit einer nüchternen, sachlichen Architekturgesin-
nung entstehen konnte, erinnert daran, daß auch
die romantische Seele sich in der kühlen, strengen
Umwelt des Klassizismus zu ihren leidenschaft-
lichen, oft krankhaften Exaltationen erhoben hat
und daß die spätgotischen realistisch grausamen
Passionsaltäre in hellen, ruhig heitern Hallen ge-
standen haben.

Wohin die Kunst heute zielt? Niemand weiß es.
Gewiß ist nur, daß das Lebensbekenntnis des neuen
Reiches sich für die Künste günstig auswirken muß
und daß die Baukunst der Malerei und Plastik in
dieser Gesundung vorangegangen ist. Es liegt heute
mehr am Laien als am Künstler, daß die Kunst aus
ihrer Vereinsamung und Erstarrung erlöst wird,
und daß sie wieder das Vertrauen findet, das sie
braucht, um zwischen den ewigen Polen der Natur
und des Lebens ihr formales Gleichgewicht zu finden.

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