Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 49.1933-1934

DOI Artikel:
Christoffel, Ulrich: Tanz und Plastik
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.16481#0312

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Ernst Barlach. Bettlerin

Tanz Und Plastik. Von Ulrich Christoffe!

Als Georg Kolbe vor zwanzig Jahren seine Tänzerin
modellierte, da entstand eine körperliche Gestalt,
die sich aus sich selbst bewegte. In der Plastik des
19. Jahrhunderts lagerten die Körper, ohne Bezie-
hung zum Raum und seiner kreisenden Bewegung,
statisch und starr in ihrem Schwerpunkt, und es
konnten daher, auch wo die Glieder ausdruckver-
langend von dem affektbeladenen Körper fortstreb-
ten, keine plastischen Bilder entstehen, sondern nur
grimassenhafte Gesten. In Kolbes Tänzerin löst sich
die Bewegimg aus dem Inneren des Körpers und
schwingt in Wellen in den Raum hinein, ohne daß
der Leib aus seiner plastischen Begrenzung hervor-
träte. In sich selber verschlossen, formt und erfüllt
die plastische Figur den Raum. Die Plastik ist Tanz
geworden. Zur selben Zeit trat auch im Tanz eine
Wandlung ein: die unendliche Walzerwelle des
Tänzerischen wollte sich in einer Mitte sammeln
und der zerfließenden Bewegung des Musikalischen
eine neue Ordnung und Gestalt geben, der Tanz
wollte Plastik werden und vom Menschen aus, nicht
mehr von der Melodie aus seinen Stil bilden. Das
letzte Resultat dieser Wandlung ist der Tanz der
Mary Wigman. Der Tanz verließ sein heiteres,
zwitscherndes Vogeldasein und bettete sich in den
schwerblütigen, schicksalshaften Strom der Zeit. Er
wurde Mittler zwischen dem Menschen und seiner
Welt. Mary Wigman bezeichnete den Tanz ,,als ein
einziges rhythmisches Schwingen oder Fluten, in

dem noch die kleinste Geste von dem großen, un-
endlichen Bewegungsstrom getragen wird". ,,Der
Tanz ist Lebensausdruck, symbolhaftes Gleichnis
des lebendigen Daseins, Gegenwartsbekenntnis, Er-
leben des Daseins ohne jeden intellektuellen Um-
weg." Alle diese Bestimmungen könnte man auch
auf die heutige Plastik anwenden, die den Körper
nicht als ein Stück Natur, sondern als Willensträger
auffaßt, der sich aus Leben und Schicksal seine Ge-
stalt aufbaut und sich im Raum durch seine innere
Bewegtheit durchsetzt. Die Körper verdichten sich
zum Block, oft mehrere Körper zu einer Gruppe,
aber in ihnen strömen wie weiche Glut Leben und
Leiden und ungestilltes Wollen der Zeit. Diese
Durchdringung von Tanz und Plastik kennzeichnet
besonders die Kunst von Ernst Barlach. In seinen
russischen Bauern, seinen Trinkern, Berserkern,
Bettlern, frierenden Mädchen, sorgenden Frauen
sind es die Affekte, die die schwere Masse der unge-
lenken Körper bewegend durchfluten und ihre
Dumpfheit zu Ausdruck und Bekenntnis umgestal-
ten. Durch den Künstler sind die Menschen aus
ihrer Einsamkeit erlöst und in den Bewegungsstrom
des Tanzes, die Einheit allen Lebens aufgenommen
worden, die ihnen im leeren Raum Halt, Kraft und
Form geben. Man sieht hinter den Gestalten Bar-
lachs keine Landschaft, weder die grünen Wiesen
seiner mecklenburgischen Heimat noch die Ode des
russischen Flachlandes, in der er seine Menschen

278
 
Annotationen