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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 9.1911

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Heft 6
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Delacroix, Eugène: Nicolaus Poussin
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https://doi.org/10.11588/diglit.4706#0296

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eine genauere Betonung der anatomischen Kennt-
nisse oder eine grössere Geschicklichkeit in der
Ausarbeitung der Wirkung fast gemindert werden
könnten.

Poussin hat unbestreitbar die Schönheit gefun-
den; jedoch in seinen Gemälden giebt er nicht jenen
unwiderstehlichen Zauber, der uns in den Raffaels
entzückt. Die Gestalten der Gottheiten, die er der
Fabel entlehnt, die der Heiligen und seine Madonnen
atmen echte Vornehmheit, aber sie verdanken sie
vor allem einer gewissen Korrektheit, die ein wenig
eintönig und kalt ist. Er malt weder die scheue
Röte der Jungfrauen, noch die verzückte Blässe der
Heiligen und der Märtyrer; er verfügt nicht über
jene eindringliche Weise der Jungfrauen Murillos,
nicht mehr als über die süsse Mattigkeit und das
zärtliche Wesen derer Correggios. Er versteht es
nicht, sie wie diese beiden Meister mit einem leuch-
tenden Strahlenkranz zu umgeben, sie ganz verklärt
mitten unter jenen Glorien und jenen Legionen von
Erzengeln, durch die ihre Augen sich bis zu Gott
zu erheben scheinen, zu zeigen. Jedoch als Ersatz
welche Überlegenheit in den Vorwürfen, die er der
Geschichte entlehnt! Welche Hoheit, welche Kraft
in diesen männlichen Römern, die wahrhaft Männer
sind! Wie weit ist man hier von jenen Theater-
helden entfernt, die nur in ihrem Gewand an ihre
Thaten erinnern! Was für Griechen dieser Phocion,
dieser Eudamidas, dieser Achilles! Was für ein
Römer dieser Coriolan, der sich in seinem eigenen
Lager durch die Bitten seiner Mutter hat erweichen
lassen! Ganz allein Poussin konnte die beiden
Krieger erfinden, die hinter ihrem unentschlossenen
Führer in einer unruhigen Haltung stehend darauf
warten, die Wirkung der Bitten der Veturia und
der römischen Frauen zu erfahren; er allein konnte
diesen verletzten Mann mit diesem halb aus der
Scheide gezogenen Schwerte, der seine Hände mit
seinem Zorn schwach werden fühlt, in dem Augen-
blick malen, da seine in Trauergewänder gehüllte
Mutter seine Knie umfasst und ihn auf das Schick-
sal des gestürzten Roms hinweist — jenes ideale
Wesen, dem der Künstler in seinem Gemälde Ge-
stalt verliehen und auf das der Verbannte seine
Augen gerichtet hat. Es scheint, dass er wie der
grosse Corneille, dem er in mehr als einem Punkte
gleicht, seine Vorwürfe vorzugsweise den Zeiten
entnommen hat, die die Darstellung grosser Thaten
und starker Gefühle gestatten. Man ist versucht,
ihn mit jenen Männern des Plutarchs zu verwech-
seln, die er in seinen Bildern wieder aufleben liess;

es scheint, dass seine Seele, die alle niedrigen und
gemeinen Gegenstände verachtet, sich nur in einer
heroischen Sphäre wohl fühlt.

Der Tod seiner Frau, der ungefähr ein Jahr vor
dem seinigen erfolgte, versetzte ihm den empfind-
lichsten Schlag in dem Augenblicke, da er völlig
von seinen Leiden niedergebeugt, — er hatte wegen
der Schwäche seiner Augen und seiner Hand ent-
schlossen den Pinsel niedergelegt — mehr denn je
der Sorgfalt seitens einer zärtlichen Liebe bedurfte.
In dieser Lage schrieb er an Herrn von Chantelou,
um ihm ans Herz zu legen, doch ja über die Aus-
führung seiner letzten Bestimmungen wachen zu
wollen, besonders derer, die er zugunsten seiner
armen Verwandten in Andelys getroffen hatte. Von
diesem Augenblicke an siechte er nur noch dahin;
mit Ausnahme eines an Herrn de Chambray, den
Bruder seines Freundes, gerichteten Briefes, in dem
er sich der Mühe unterzieht, dem Empfänger einige
Worte über die Theorie der Malerei aufzuzeichnen,
hat er offenbar nichts mehr geschrieben, noch hat
er sich von der Niedergeschlagenheit erholt, in die
ihn seine Leiden und seine Verlassenheit gestürzt
hatten. Diese kurzen Grundsätze, die er mit zittern-
der Hand und am Rande des Grabes niederschrieb,
lassen es bedauern, dass er nicht in der gleichen,
der alten würdigen Schreibweise umfangreichere
Bemerkungen über jene Kunst, die er hier erläutert
hatte, hinterlassen hat. Ein Schlaganfall gestaltete
seine anderen Beschwerden noch verwickelter: er
brauchte mehrere Tage, um einen ganz kurzen Brief
zu schreiben. Der Kummer über den erlittenen
Verlust trug ohne Zweifel dazu bei, sein Ende zu
beschleunigen. Dieses Ereignis wurde eine öffent-
liche Trauer für Rom, das ihn als eine seiner Zier-
den betrachtete und das sich daran gewöhnt hatte,
ihn zu den grossen Männern zu zählen. Er war am
19. November 1665 gestorben.

Die letzten Gemälde Poussins lassen jenes Zit-
tern der Hand erkennen, über das er sich mehrmals
in seinen letzten Briefen beklagt; man bemerkt es
besonders in seinen vier Kompositionen der Jahres-
zeiten, die sich im Louvre befinden und von denen
die eine, die den Winter darstellt, die berühmte
Sintflut ist, eine seiner schönsten Schöpfungen.
Selbst zu einer Zeit, da er noch nicht dazu gekom-
men war, in der technischen Ausführung die
Schwierigkeiten zu empfinden, die das Alter später
bei ihm zeitigte, bemerkte man an seinen Gestalten
ein etwas zu sehr verkleinertes Verhältnis; sie er-
scheinen im allgemeinen zu kurz: dieser Fehler



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