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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 17.1919

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Heft 2
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Winter, Franz: Von vergleichender Kunstgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.4754#0059

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unmittelbarer Berührung mit ihr entstanden sind, wie
Bilder auf griechischen Vasen, übermitteln uns eine
deutliche Vorstellung von dem Wesen dieses Ethos.
Der entscheidende Zug liegt in der Innerlichkeit der
Darstellung. Hatte die ältere Kunst in epischer Weise
von dem äusseren Sichvollziehen der Begebenheiten
und Vorgänge der Sage erzählt, so trat jetzt die Schil-
derung der Handlung zurück hinter der Charakterisie-
rung ihrer Hauptträger, die deren inneres Verhalten in
bedeutenden Momenten den Beschauern stark und
eindringlich vor Augen und in die Seele brachte. Da-
mit wandelte sich die Komposition. An Stelle der
Nebeneinanderreihung unter sich gleichwertiger oder
nur äusserlich unterschiedener Figuren trat eine Dar-
stellung, in der die Hauptpersonen als solche hervor-
traten, alles übrige um diese als den grossen Mittel-
punkt sich konzentrierte. Es war ein analoges, auf
derselben Vertiefung der künstlerischen Auffassung
beruhendes Fortschreiten, wie es zur selben Zeit in
der griechischen Dichtung zur Schöpfung des Drama
durch Äschylos geführt hat.

Das gleiche Ethos scheidet Giottos Kunst von der
seiner Vorgänger, kommt hier in dem nämlichen Über-
gang von der mitteilenden zur charakterisierenden,
von der epischen zur dramatischen Darstellung, am
auffälligsten und eindrucksvollsten in der grossen Bilder-
folge der Christusgeschichte in der Arena von Padua,
zu verwandtem, auch in der Anwendung derselben
Kunstmittel entsprechendem Ausdruck. Es spricht daraus
der Geist einer neuen grossen Zeit, die beide Male
gleich gerichtet in der Kunst gleiche Erscheinungen
hervorrief.

Richten wir nun unseren Blick auf das Gesamt-
schaffen der beiden Kunstepochen, denen Polygnot
und Giotto angehören, so bemerken wir eine auffällige
Verschiedenheit. Giotto ragt aus seiner Umgebung als
eine einsame Grösse hervor, die auf eine weite Strecke
hin seinen Schatten wirft. Die italienische Kunst bleibt
ein Jahrhundert und mehr in seinem Banne. In der
griechischen Malerei dagegen setzt schon mit der den
unmittelbaren Nachfolgern und Schülern Polygnots
folgenden Generation eine neue Entwicklung ein.
Polygnot selbst aber steht inmitten eines allgemein
und bis in die Kreise des Handwerks hinein lebhaften
Kunstschaffens. Der Malerei steht die Plastik eben-
bürtig zur Seite, in berühmten Meistern vertreten, die
teils, wie namentlich Phidias, in Art und Richtung sich
mit Polygnot näher berühren, teils wie Pythagoras und
Myron, mehr nach der Seite des Formalen hin, in den
Problemen der natürlichen Wiedergabe des Lebens
ihre Aufgaben suchen. Wenn die griechische Kunst
in der Zeit nach den Perserkriegen mit einem reicheren
Schaffen und mit einem in formaler Beziehung reiferen
Können auftritt, als die italienische in der entsprechen-
den Zeit des beginnenden Trecento, so lässt sich die
Erklärung dafür in dem Umstände finden, dass sie

durch die Arbeit der vorausgegangenen archaischen
Kunst, durch deren lebhafteres, leichteres, äusserem
Zwange weniger unterworfenes Wirken im Ganzen
und durch deren konsequente Bemühungen um eine
richtige Wiedergabe der nackten menschlichen Gestalt
im Besonderen um so viel besser vorbereitet war. Und
aus dieser besseren Vorbereitung erklärt es sich, wenn
in der griechischen Kunst Entwicklungserscheinungen
neben und unmittelbar hintereinandergereiht liegen, die
in der italienischen Kunst gleichartig, aber durch einen
weiteren Zwischenraum voneinander getrennt, hervor-
treten. Die italienische Kunst hat das ganze Jahrhundert
nach Giotto gebraucht, um an allgemeiner formaler
Durchbildung das zu erreichen, was die griechische
Kunst der Zeit der Perserkriege als Erbe des Archais-
mus überkommen hat. Man kann sagen, entwicklungs-
geschichtlich rückt die Kunst des Quattrocento näher
an Giotto heran, als es nach dem thatsächlichen zeit-
geschichtlichen Abstände den Anschein hat.

So tritt der Naturalismus, der in der griechischen
Kunst sogleich nach der Überwindung der archaischen
Konvention frisch und stark hervorbricht, in der italie-
nischen Kunst erst mit dem beginnenden Quattrocento,
in diesem aber ganz entsprechend, in Erscheinung. Er
hat in Myron und inDonatello seine grössten Vertreter:
zwei Meister von gleich kühner schöpferischer Kraft,
gleich in der schrankenlosen, temperamentvollen Hin-
gabe an die Natur, getrieben von demselben unauf-
hörlichen Drange, das Leben in seiner Vielgestaltigkeit
und in dem Reichtum stets fliessender vorübergehen-
der Bewegung künstlerisch ganz zu erfassen. Die von
Donatello gerühmte Terribilitä der Erfindung gilt
ebenso von Myron, wie sich das Schaffen des Floren-
tiners ebenso in das Wort zusammenfassen Hesse, mit
dem ein antiker Kunstschriftsteller von dem Griechen
Myron gesagt hat, er habe die Natur vervielfältigt.
Was dasselbe bedeutet, wie: er habe sie nicht nach
Einem allgemeingültigen Schönheitsideal, in Wieder-
holung eines ein für alle mal als giltig anerkannten
Kanon wiedergegeben, sondern in der Mannigfaltigkeit
ihrer individuellen Erscheinungen und — wie uns Ke-
kule aus der Parallele mit Donatello die Kunst dieses
Meisters verstehen gelehrt hat — indem er bei jeder
neuen Aufgabe immer wieder die Natur zum Aus-
gangspunkt nahm und das Motiv der Darstellung immer
aus dem Neuen, aus der dem jedesmaligen Thema zu-
grunde liegenden Idee entwickelte und gestaltete.

Diese Auffassung der künstlerischen Aufgabe, die
sich an das Sachliche der Dinge hält und in der Natur
das Vielgestaltige, die Fülle und die Individualität der
Erscheinungen aufsucht, tritt auchin Werken anderer mit
Myron und Donatello gleichzeitiger Meister der griechi-
schen und italienischen Kunst zu Tage. Aber je nach
Temperament und Anlage der einzelnen Künstler, je
nach dem höheren oder geringeren Grade ihrer Selb-
ständigkeit und Freiheit im Erfinden und Gestalten

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