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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 2.1922

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Heft 2 (März 1922)
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Hartlaub, Gustav Friedrich: Der Genius im Kinde, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.21684#0033

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mehr^ als weim er ihm gewisse Ferligkciten mit auf
denLebensweggibt. Alles was beimZeichnen,Basteln,
Singen und Spielen spontan und organisch aus dnn
Kinde hervorwa'chst — und nur dann mutet es den
Betrachter künstlerisch an —, ist sorgfältig zu hegen.
Es gilt, dem Kinde Vertrauen zu machen zu diesen
keimbaften Ansätzen natürlicher Schöpserkrast, denn
alles, was einmal der Genius in seiner Seele be-
wirkt bat, stellt einen unverlierbaren Schatz sür das
ganze Leben dar, nicht nur als Erinnerung, sondern
als im Unbewutzten fortwirkende, ost auch ins Be-
wutztsein erhobene Kraft. Wer einmal ganz Kind
war (und das ist man nur ln der Welt des Traums
und Splels und der spielenden Gestaltung), und
wer es mit elnlgem Selbstvertrauen, mtt einigem
Bewußtsein (nicht mit »Bewußthekt") war, der er-
hält kmmer ein Stück unverkümmerten Menschentums
in sich. Wer als Kknd viel aus freier Lust, vom
guten Genius behütet und geleitet, gemalt, gebastelt
und gebildet hat, wer nicht, durch falsche Unter-
weisung verbildet, solche kleine Schöpfererlebnisse weg-
drängen mußte, der hat viel mehr in sich bewahrt
von echtem Gefühl für das Werden und Wachsen
der Kunst, als ihm irgendeine Erziehung zur Kunst
hätte geben können. Freilich, damit der Lehrer wisse,
was an den abstchtslosen Versuchen seiner Kknder
vom Genius gewirkt, also künstlerisch ist, gleichviel,
wie bescheiden die Mittel, muß er selber ein Organ
für das Künstlerische haben, also produktiv oder doch
rezeptiv ein Künstler sein. Hier kann — vor allem
durch vergleichendes Kunststudkum - der Instinkt,
das Urteil sehr geschärft werden, und es darf gesagt
sein, daß der gegenwärtige Durchschnittsstand in der
i Erziehung zum Oualitätsurteil hierzu ebenso forder-
> lich ist, wie der eben durch dke neuefte Kunst er-
; schlossene Sinn für das Wesen und den Werk
primitiver und naiver Kunst überhaupt.

Uberschätzen wir nicht dke unentwickelten kindlichen
Ausdrucksversuche? Ist das Wesen dieser Versuche
nicht etwas so selbstverständliches, daß man es mit
Worten lieber gar nicht berühren und beleuchten
sollte? Heißt das Bestärken kn seiner eigentümlichen
Weise, dies Ausspielen kindlicher Art gegen dke der
heutigen Erwachsenen nicht — selbft wenn es sich
nur auf Kunst und Spiel beschränkt — ein Bruch
mit jenem obersten Grundfatz der Erzkehung, welcher
den Fortschrittswillen mit dem rückläufigen Roman-
tisierungstrieb km Kknde versöhnt: dem Prknzkp der
Autorität und der Ehrfurcht?

2n der Tat würden Zeitalter, in denen der Er-
wachsene und sekn Leben nur eine organische Fort-
setzung und Entwicklung des Kindheitsalters und
seiner Daseinssormen geben, auf elne Einstellung
wie die unsrige gar nicht kommen, und vielleicht er-

greifen wir damit den tiefsten Grund jener schon im
ersten Kapitel berührten Tatsache, datz vor allem der
Antike ein sentimentaler Kinderkult fehlt. Es ist
aber eine Grundwahrheit gegenwärtiger Zeitkritik,
daß kn der Mechanificrung und Entseelung des
Lebens, welches der heutige zivilisierte Erwachsene
führen mutz, ein scharscr Gegensatz zu jener Daseins-
form besteht, die einmal war und dke sich im Kindes-
alter immer wiederholt. Was in organkschen Zeit-
läusten in der Tat ehrsürchtig von den Kindern zum
Vorbild genommen werden sollte, besitzt heute gegen-
über dem in der Kindheit bewahrten Leben einen
unleugbaren, objektiv zu erweisenden Nachteil. Wer
diesen Nachteil einmal erkannt, dkeses Umbruchs ein-
mal innegeworden ist, für den bleibt dle Eigenschast
des kindlkchen Wesens und seines spielenden Tuns
freilich noch immer eine Selbstverständlichkeit, aber
doch eine solche, die sich als besonders wertvoll und
wichtig gegenüber späteren Zuständen abhebt. Weit
entfernt, diese Tatsache sentimental zu nehmen, fragt
er sich sachlich, ob nkcht zum mindesten auf dem
großen Gebicte zwischen Spiel und Kunst aus dem
Kindesalter ein Keim mit hinübergenommen werden
kann, der, auf dem Boden des Lebens eingesenkt,
reiche Früchte bringen würde, dieses Leben wahr-
lich zu einem besseren Gegenstand kindlicher Ehrfurcht
und Nachahmung machen müßte, als es heute ist.

Wir haben unseren Versuch, dem Kinde wieder-
zugeben, was des Kindes ist, gewiß nicht ohne viel-
fältige Verknüpftheit mit jenem allgemeinen Ver-
jüngungswkllen unternommen, welchen wlr als eine
Grundrichtung modernen Kunstwollens erkannten.
Gerade weil wir hoffen, damit keiner Modeta'uschung
gedient zu haben, ist es für uns bemerkenswert,
daß in der Zeit, da diese Betrachtungen nieder-
geschrieben wurden, jene Kunstrichtung als solche
schon zu Ende ging. Das erpressionistische Fieber
ist gesunken, man darf das unbeschadet einer un-
bedingten Hochwertung dieses kühnen seelischen Er-
neuerungsversuchs und erst recht einzelner aus ihm
hervorgewachsener Kunstwerke und Künstler feststellen.
Damit geht auch zuallererst der ertreme Znfantilks-
mus zu Ende. Der Rückschlag hat auf dcr ganzen
Linie eingesetzt, und wie so oft pflegt man bei sol-
chem kritischem Reinigungswerk das Kind mit dem
Bade auszuschütten. Viellelcht gibt der schon ge-
wonnene Abstand erst unseren Nberlegungen ein
tieferes Daseinsrecht. ZurückschaUcnd und zusammen-
saffend sagen wir, daß dle neue Bcwertung des
Kindes auch in seinem bildenden Tun knnerhalb
unserer heutigen Kulturkrifls dem reifen Menschen
zu einer Ouelle lnnerer Erneuerung werden kann —
vorausgesetzt, daß dieser Bewei-tungswille sich selber
richtlg versteht.
 
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