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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 2.1922

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Heft 4 (September 1922)
DOI Artikel:
Henselmann, G.: Über Kinderzeichnungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.21684#0071

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Gcheimnis. Das durch den §chrer bestärkte Ge-
fühl: „ich kann eS" befreien sekne persönlichkeit
umsomehr, als cs sieht und fühlt, daj; es ernst
gcnommen wird. Dieses Schaffen muß von dem
Alltaglichen des Kindes getrennt werden. Es gibt
öarin kein sogenanntes „böses Kind", das stiehlt
oder lügt, oder ein „gutes Kind". Es steht innerlich
arm gegen innerlich reich, Einfaches gcgen Viel-
faches, punkt gegen gekräuselte Linie. Aber jedes
Kind kann unv will niedcrschreiben, weil ein be-
urteilendes Wort nicht trübt, die Begeisterung
hemmt und weil die Motive der Darstellungen
nicht beschränkt stnd. Eine kurze Vorbesprechung,
die ergänzt wird durch Volkssprüche (Fastnacht,
Weihnachten, Ostern, Nikolaus usw.), um die
Kinder in die Sttmmung zu bringen, ein Hknweis
auf die Farbigkekt der Darstellung machen die Vor-
bereitung aus. Ein rein sachlich veranlagtes Kind
schreibt auf,- ein senstbles, spkelerisches gibt sekne
Vorstellung in zarten Linien und Formen. Dem
Starken, Farbenfreudkgen ist kein Farbton kräftkg
genug, er spreizt sich in Blau und Not. Vatürlich
kann ein gegenseitiges Beeinflussen auch durch platz-
wechsel nicht unterbunden werden.

Bei diesem oder jenem Blatt ist man versucht
zu sagen: es sieht aus wie ein Bild von Munch,
von Matisse, von Rousseau oder Klee. Dhnlich-
kciten verführen dazu. Bekm Kind rst es ein Ver-
such, sich der Natur zu nähern,- etwas, was vor
der Wiedergabe der Natur liegt,- Viederschriften
ohne Kunstwollen. Eines haben sie beide gemein-
sam, dke Außerungen des Kindes und die Schöp-
fungen des Künstlers: dort dke Naivität, und hier
die wiedergewonnene Vaivität und eincs verlangcn
fle beide: die dankbare Hingabe,- denn beide, Künstler
und Kind, tragen unsere Wünsche und Sehnsüchte.
Beim Betrachten der Blätter drängt sich dke Frage
auf: „Woher kommt dke Kraft, sich auf dkese Weise
auszudrückcn?" Aus dcr Heimat, aus der Stammes-
zugehörigkeit. 2n diesen Landschafien kehrcn kmmer
wieder die Alpen, die runden, langen Bergrücken,
die verzipfelten Bäume, das Rheinwasser.

Dort bcginnt ihr Leben, ihr Auge sieht zum
ersten Mal ringsum. Aus diesem Anschauen baucn
sie. Dann zwingt auch die Abgeschlossenhekt die
Bewohner in stch selbst und macht Beobachter wie
die Heide und das Meer. Ekn Franke hat eine
andere Form, sich auszudrücken, als ekn Alemane,
ein Mensch der Ebene wkrd andere Bilder in sich
aufnehmen, als ein Bergbewohner. Aber auch,
was sich von den Wänden der Häuser und Kirchen
dem Kinderauge aufvrängt, von der farbigen plakat-
säule oder der Zigarren- und Zigarettenschachtel,
wlrd aufgenommen. In dcr Erinnerung klingt

dann bei ihren Vieverschristen dieses und jcnes
nach. Und warum sollen nicht Bedingnisse für
diese Sprache der Kinder im Gefühl der 3eii
liegen? Ein Kind der siebziger 2ahre hatte sicher
andere Bilder in sich und gab sie auf eine andere
Art wieder als ekn Kinv der neunziger Iahre oder
der Ietztzeit.

Die Zeichnungen dcr Iüngeren zeigen viel Ge-
meinsames mit der einfachen Mitteilung der Hrimi-
tive der Völker: Gleichsctzung von Ferne und Vähe,
Gleichbedeutung von Mensch, Baum, Berg, Haus,
das Gesctz des parallelismus. llbersichtlich ge-
staffelts bedecken die Darstellungen schmuckhaft das
Blatt. Ohne ausgedachten plan, leicht ablesbar,
stellt sich ein Haus über etnen Weg, erhebt sich
ekne gebogene Linie oder ein Dreieck als Berg.

Dke Fläche, auf der die Menschen liegen, in der
die-Bäume hängen, hört irgendwo auf mit einem
Baum, einem Haus, wächst kn eine Bergkette oder
zieht sich über das ganze Blatt. Viele Wege
laufen auseinander, dem Kind alle Wege, die es
gehen kann. Ein Weg geht durch das ganze Blatt,
rechts und links liegen die Bäume, und führt an
ein Haus, auf einen Berg, irgendwohin führt er
immer. Die Fülle, dke im Kinde drängt, braucht
Fläche,- sie setzt irgendwo an auf dem Blatt, baut
an, und ost will der platz nur noch einem halben
Menschen reichen, der am Blattrand klebt. Ein
Baum hat Stamm, Aste, Blätter. So wird er
als Wesen wiedergegeben. Der Stamm streckt
sich, die Aste stechen in die Fläche der Krone, oft
auch ziert nur ein Blattypus, in Büscheln an-
geordnet den Ast. Eine gebogene Linie erhebt sich,
cine gebrochene stößt in das Weiß des Papiers.
Die Fläche dazwischen mit einem Farbton gedeckt:
ein Berg, der sich als Masse zeigt,- oder die Fläche
geskrichelt, getupft: ein Berg, bewegt von dem
Leben der Bäume und Felsen. Die Sonne ist
die rote und gelbe Scheibe, die in der senkrechten
Ebene des Himmels steht, oder sie lugt hinter vem
Berg hervor,- die Strahlen als Linien strecken sich
weit in dke Fläche. Das Haus hat nicht die in
die Tiefe laufendcn Wände, wie auch der Baum
keine Rundung hat. Das Kind sieht und fühlt
nkcht um die Dinge herum.

Einige Blätter mögen weiter sprechen:

Fastnacht.

Auf allen Blättern kst große Farbkgkeit. Ein Wirrwarr
von üknken imd Farben aus Vem Gefühl deS närrkschen
Mcnschen, der verzerrt kn buntcn Kleidern stcckt, dke eine
rekche phantaske erfunden hat. Iedc blbertreibung kst Komlk,
ofk dke hktfiose Komik, Vie an Tragik grenzt. GroteSk steht
ekncr allekn, zwek begegncn sich mit starrer Gebärde, in
einer Strasie Vrängt sich ein bunter Trubel. 2n Sackingen
istFastnacht cin Volksfest,- VaS ist VerBkederschlag imKinde. '
 
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