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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 2.1922

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Heft 5 (November 1922)
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Gutman, Emil: Die Darstellung des universellen Differentiationsprinzips in der bildenden Kunst als Beispiel historischer Einheit von Wissenschaft, Kunst und Religion
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https://doi.org/10.11588/diglit.21684#0109

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L24

zurückgehende Ideen in anschaulicher Form dem
Volke darbot.

Noch einen dritten Beleg — dem Gebiet der
graphischen Kunst entnommen — bietet Wb. 2, c.
Das eine pietu darstellende Bild ist ein Holz-
schnitt in „Oe IvlLriu vlr§ine" des Canisius,
Ingolstadt 1Z77.')

Wir sehen hier eine mit dem Vorigen vollkom-
men übereinstimmende Darstellung der ^Sieben
Schmerzen Mariä", wenn wir dke !m Zentral-
punkt des Bildes — der zugleich die Spitze der
gleichseitig drcieckigen Figurenanordnung ist — zu-
fammenkreffenden Schwerter als das Sinnbild der
Schmerzen Mariä auffassen. 2m Gegensatz zu
andern Bildern desselben Gedankens dringen hker
die Schwerter nkcht kn das Herz der Gottesmutter
ein. Hker mützte dke Darstellung ohne Eknblick in
die mathematischen Gestaltungsgrundlagen nur schwer
- verständlich sein. Nach dem Vorerwähnten, mit

dem fich dke Gruppkerung der Schwerter in
drei und vier zu Sekten des senkrechten 5)olzes
des ägyptischen Kreuzes völlig deckt, wird der Be-
ziehungsreichtum des Bildes erst völlig ausgeschöpst.

2m übrigen glauben wir, dkesem Bilde nach all
dem bksher Mitgeteilten nichts mehr hinzufügen zu
müssen, da der tiefe Sinn, der in dkeser auf den
ersten Blkck sicherlich befremdlich erscheinenden An-
ordnung liegt, sich bei Berücksichtigung der allge-
meincn Gestaltungsprinzipken deutlich offenbaren mutz.

Als letztes Beispiel (Abb. 3) fügen wir noch ein
altchrkftlkches Arkosolbild bei, welches dem
»Erlösungsgedanken"' künstlerischen Ausdruck zu ver-
leihen sucht. Es ftellt inmitten der steben symbo-
lischen Fische den guten Hirten dar und stammt aus
der Bekropole von Lyrene^).

i) Aus Bekssel, Geschichte der Verehrung Marlas im
16. u 17. Zahrh Frekburg k. Br. 1910.

Nach pacho, Vo/s§e dans ls bdormarigue,
Ovrenaigue usw., nachgebklvet bel Dr. Oskar Wulff, alt-
christlkche und byzantinische Kunst.

Die Siebenzahl der Schafe ift hier nicht diffe-
renziert in drei und vier dargestellt, sondern die
Disferenz ist aufgehoben dadurch, daß Christus
das vierte bzw. das siebente Schaf auf der Schulter
trägt und damit die symmetrische und harmonische
Einheit — wie sie in Abb. 1 von der Kugel bzw.
vom Krcis repräsentiert wird — herstellt. Christus
als Sohn Gottes vollbringt also sein Erlösungs-
werk, indem er die der geschaffenen Welt unter-
liegende Differentiation aufhebt und so Symmetrie,
Gleichgewicht und damit Einheit und Nückkehr zum
ungeteilten, einheitlichcn Gottzustand herbeiführt.

Es würde zu weit gehen, hier den noch weiter
dem tief symbolischen Bild unterlkegenden 2deen-
und Geheimnisgehalt ausschöpfen zu wollem Viel-
leicht bketet sich hierzu in wekteren Darlegungen,
die stch im Anschlutz an das Vorstehende und in
Ausweitung und Vertiefung des Gesagten machen
ließen, Gelegenheit.

Iedenfalls dürfen wir hker zum Schlusse so viel
sagen, daß es zur Darstellung von Wahrheiten noch
andere Außerungsformen als die Wissenschast gibt.
Und dies stnd dkeMittel der bildenden Kunst, die
genau so gut dazu dienen wie die Sprache der Wissen-
schast, der Wahrheit und der Wirklichkeitsauffassung
eine Form zu finden, in welcher sich diese glekchsam
der Welt der inneren Vorgänge km Menschen ent-
ringen können.

Lcider hat unsere moderne Zekt der ^obsektiven"'
und .erakten" Wissenschaft gegenüber ihrem als allein
gültig angesehenen Darstellungsmittel der Sprache
die künstlerische Außerungsform zurückgeseht. So
kam es, daß man dem Reich der Wissenschast als
dem Reich der Wirklichkeit und der Wahrheit das
Reich der Kunst als dasjenige dcs täuschenden
Scheins gcgenübergestellt hat. Und schließlich wurde,
im Verfolg dieser verhängnisvollen Auffassung, die
Kunst das, was ste heute geworden ist, ekn der sub-
fektkven Willkür unterworfenes Gebiet, das alle
Bezkehungen zum Mutterboden der Volksseele ver-
loren und fast alle Brücken, die sie mit der Wissen-
schaft und der Religion früher verbunden hat und
auch immer hätte verbinden müssen, abgebrochen hat.

Das fortdauernd von außen dem Menschen zu-
strömende Material der Sinneswahrnehmungen geht
unaufhörlich und in den mannigfachsten Formen
wieder aus der unendlkch komplizierten Tätigkeit
der menschlkchen Organisatkon hervor. Und wenn
die in dcn wissenschastlichen Wahrheiten licgende
Wirklichkckt, die uns die Wissenschast mit ihrcn
Mitteln der Sprache darstellt und kennen lehrt,
eine von diesen Formen ist, so tritt uns in den
Formen der wahren Kunst nichts anderes entgegen,
als eine in anders gestaltetcn, aber demselben
 
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