KUNSTCHRONIK
WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE
Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13
Neue Folge. XVI. Jahrgang 1904/1905 Nr. 11. 13. Januar
Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommer-
monaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende
Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und
Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13 Anzeigen 30 Pf. für
die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse usw. an.
DAS WETZLARER SKIZZENBUCH
UND DER GIEBEL DES HEIDELBERGER
OTTO HEINRICHSBAUES
Den fortgesetzten drängenden Anfragen bezüglich
meiner Ansicht über den Wert der »Wetzlarer« Giebel-
zeichnung und nach den Gründen, weshalb ich diese
Zeichnung für nicht original halte, glaube ich mich
nicht länger entziehen zu dürfen und gebe daher in
nachfolgendem die gewünschten Darlegungen:
Das Wetzlarer Skizzenbuch enthält die architek-
tonischen Studien eines deutschen Kunstjüngers aus
den Jahren 1615—19. Aus Einzelheiten geht her-
vor, daß diese Studien im Atelier Georg Ridingers
zu Aschaffenburg resp. Mainz gemacht sein müssen,
da sie auch eine Reihe von nicht ausgeführten Varianten
für das Aschaffenburger Schloß G. Ridingers enthalten,
das damals schon fertig war. Außerdem sind viele
Blätter aus architektonischen Werken abgezeichnet,
so daß anzunehmen ist, G. Ridinger habe dem streb-
samen Zeichner auch seine Bibliothek außer seinen
eigenen Entwürfen zur Verfügung gestellt. In Über-
einstimmung damit enthalten die nicht aus Büchern
stammenden Zeichnungen ohne Ausnahme Gegen-
stände im Geschmack der Zeit um 1615, im Schnörkel-
und Schweifstil der entwickelten deutschen Renaissance.
(Über die am Ende befindlichen Skizzen von technischen
Vorkehrungen und Maschinen, von Dachstühlen und
Befestigungen gehe ich als hier unerheblich hinweg.)
Unter den Zeichnungen befinden sich auch die Kopien
einiger architektonischer Aufnahmen, so: Portal der
Michaeliskirche zu München, Schloßaltane zu Heidel-
berg, selbst das Tor der Laurenziana zu Florenz.
Aber alles dies im Charakter des beginnenden Barock-
stiles um 1615.
Mitten darunter (Blatt 57) erscheint plötzlich ein
in etwas anderer Manier (braun gezeichnet, bläulich
schattiert) dargestellter Giebel, durch Beischrift als der
gekennzeichnet, der zu Heidelberg auf dem Otto
Heinrichsbau stehe. Formen und Charakter dieses
Giebels können natürlich nicht dem Zeitgeschmack
von 1615 entsprechen. Er wurde bekanntlich um 1560
errichtet.
Die anscheinend alte Paginierung läuft durch das
Buch durch. Doch ist Blatt 56 und 57 doppelt; und
auf dem ersten Blatt 57 ist der fragliche Giebel dar-
gestellt. Hierfür eine Erklärung zu geben, ist bisher
nicht möglich; die Blätter 56 und 57 wie ihre zwei
Doppelgänger zeigen dasselbe Papier und scheinen ebenso
mit eingebunden, wie die übrigen des ganzen Buches;
es könnte, also ein Irrtum des Seitenzählers vorliegen,
der bereits aus dem 17. Jahrhundert stammt. Immer-
hin ist die Sache auffallend; dergleichen kommt im
Buche nicht mehr vor, wohl aber noch eine falsche
Seitenzahl, 82 statt 83. — Eine kalligraphische Bei-
schrift mit der Ortsbezeichnung dieser Art erscheint
ebenfalls in dem Buche nicht mehr — nur bei einer
der rein technischen Darstellungen am Ende (Blatt
104) die Notiz »Heuwag zu Speyer«, ganz flüchtig
geschrieben. — Die Architekturaufnahmen, auch aus
Heidelberg, sind ausnahmslos nicht bezeichnet.
Hiernach liegt zunächst kein durchschlagender
Grund vor, die Echtheit der Giebelzeichnung zu be-
streiten, allerdings fällt die eigentümliche Paginierung
auf, ebenso die verschiedene Darstellungsmanier und
die stark betonte Beischrift. Nur der Umstand, daß
ein Giebel von 1560 dem Zeitgeschmack von 1615
ebensowenig entspricht, als der Art G. Ridingers,
vielmehr diesem absolut entgegengesetzt war, läßt
fragen: wie kam dies Blatt in dies Buch? Wenn, wie
es den Anschein hat, Ridinger dem strebenden Jünger
Bücher und Zeichnungen zum Studium resp. Ab-
zeichnen gab resp. lieh, so ist das Blatt hier um so
fremdartiger, weil völlig veraltet.
Ridinger war obendrein ein Meister im Handhaben
architektonischer Ordnungen, wie seine Werke, aber
auch sämtliche anderen architektonischen Skizzen im
Skizzenbuch beweisen. Um so stärker ist der Abstand
aller dieser Arbeiten von dem absolut regellosen und
jeder Säulenordnungsrichtigkeit ins Gesicht schlagenden,
künstlerisch sehr schwachen Giebel auf Blatt 57. Er
könnte höchstens als Muster für das in das Studienbuch
gelangt sein, was man in früheren Zeiten wohl für
architektonische Ungeheuerlichkeiten sich gestattet habe.
In dem Skizzenbuche befinden sich heute noch
neunzehn leere Blätter.
Aus oben dargelegtem geht zur Evidenz her-
vor, daß, wenn auch dies Blatt resp. die Zeichnung
ursprünglich im Buche befindlich gewesen und
original sein könnte, doch auch die Möglichkeit eines
späteren Hineinzeichnens der Zeichnung auf ein leeres
Blatt absolut nicht bestritten werden kann; und daß
einige Überlegungen das auch als nicht unwahr-
scheinlich erscheinen lassen; insbesondere die Fremd-
WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE
Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13
Neue Folge. XVI. Jahrgang 1904/1905 Nr. 11. 13. Januar
Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommer-
monaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende
Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und
Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13 Anzeigen 30 Pf. für
die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse usw. an.
DAS WETZLARER SKIZZENBUCH
UND DER GIEBEL DES HEIDELBERGER
OTTO HEINRICHSBAUES
Den fortgesetzten drängenden Anfragen bezüglich
meiner Ansicht über den Wert der »Wetzlarer« Giebel-
zeichnung und nach den Gründen, weshalb ich diese
Zeichnung für nicht original halte, glaube ich mich
nicht länger entziehen zu dürfen und gebe daher in
nachfolgendem die gewünschten Darlegungen:
Das Wetzlarer Skizzenbuch enthält die architek-
tonischen Studien eines deutschen Kunstjüngers aus
den Jahren 1615—19. Aus Einzelheiten geht her-
vor, daß diese Studien im Atelier Georg Ridingers
zu Aschaffenburg resp. Mainz gemacht sein müssen,
da sie auch eine Reihe von nicht ausgeführten Varianten
für das Aschaffenburger Schloß G. Ridingers enthalten,
das damals schon fertig war. Außerdem sind viele
Blätter aus architektonischen Werken abgezeichnet,
so daß anzunehmen ist, G. Ridinger habe dem streb-
samen Zeichner auch seine Bibliothek außer seinen
eigenen Entwürfen zur Verfügung gestellt. In Über-
einstimmung damit enthalten die nicht aus Büchern
stammenden Zeichnungen ohne Ausnahme Gegen-
stände im Geschmack der Zeit um 1615, im Schnörkel-
und Schweifstil der entwickelten deutschen Renaissance.
(Über die am Ende befindlichen Skizzen von technischen
Vorkehrungen und Maschinen, von Dachstühlen und
Befestigungen gehe ich als hier unerheblich hinweg.)
Unter den Zeichnungen befinden sich auch die Kopien
einiger architektonischer Aufnahmen, so: Portal der
Michaeliskirche zu München, Schloßaltane zu Heidel-
berg, selbst das Tor der Laurenziana zu Florenz.
Aber alles dies im Charakter des beginnenden Barock-
stiles um 1615.
Mitten darunter (Blatt 57) erscheint plötzlich ein
in etwas anderer Manier (braun gezeichnet, bläulich
schattiert) dargestellter Giebel, durch Beischrift als der
gekennzeichnet, der zu Heidelberg auf dem Otto
Heinrichsbau stehe. Formen und Charakter dieses
Giebels können natürlich nicht dem Zeitgeschmack
von 1615 entsprechen. Er wurde bekanntlich um 1560
errichtet.
Die anscheinend alte Paginierung läuft durch das
Buch durch. Doch ist Blatt 56 und 57 doppelt; und
auf dem ersten Blatt 57 ist der fragliche Giebel dar-
gestellt. Hierfür eine Erklärung zu geben, ist bisher
nicht möglich; die Blätter 56 und 57 wie ihre zwei
Doppelgänger zeigen dasselbe Papier und scheinen ebenso
mit eingebunden, wie die übrigen des ganzen Buches;
es könnte, also ein Irrtum des Seitenzählers vorliegen,
der bereits aus dem 17. Jahrhundert stammt. Immer-
hin ist die Sache auffallend; dergleichen kommt im
Buche nicht mehr vor, wohl aber noch eine falsche
Seitenzahl, 82 statt 83. — Eine kalligraphische Bei-
schrift mit der Ortsbezeichnung dieser Art erscheint
ebenfalls in dem Buche nicht mehr — nur bei einer
der rein technischen Darstellungen am Ende (Blatt
104) die Notiz »Heuwag zu Speyer«, ganz flüchtig
geschrieben. — Die Architekturaufnahmen, auch aus
Heidelberg, sind ausnahmslos nicht bezeichnet.
Hiernach liegt zunächst kein durchschlagender
Grund vor, die Echtheit der Giebelzeichnung zu be-
streiten, allerdings fällt die eigentümliche Paginierung
auf, ebenso die verschiedene Darstellungsmanier und
die stark betonte Beischrift. Nur der Umstand, daß
ein Giebel von 1560 dem Zeitgeschmack von 1615
ebensowenig entspricht, als der Art G. Ridingers,
vielmehr diesem absolut entgegengesetzt war, läßt
fragen: wie kam dies Blatt in dies Buch? Wenn, wie
es den Anschein hat, Ridinger dem strebenden Jünger
Bücher und Zeichnungen zum Studium resp. Ab-
zeichnen gab resp. lieh, so ist das Blatt hier um so
fremdartiger, weil völlig veraltet.
Ridinger war obendrein ein Meister im Handhaben
architektonischer Ordnungen, wie seine Werke, aber
auch sämtliche anderen architektonischen Skizzen im
Skizzenbuch beweisen. Um so stärker ist der Abstand
aller dieser Arbeiten von dem absolut regellosen und
jeder Säulenordnungsrichtigkeit ins Gesicht schlagenden,
künstlerisch sehr schwachen Giebel auf Blatt 57. Er
könnte höchstens als Muster für das in das Studienbuch
gelangt sein, was man in früheren Zeiten wohl für
architektonische Ungeheuerlichkeiten sich gestattet habe.
In dem Skizzenbuche befinden sich heute noch
neunzehn leere Blätter.
Aus oben dargelegtem geht zur Evidenz her-
vor, daß, wenn auch dies Blatt resp. die Zeichnung
ursprünglich im Buche befindlich gewesen und
original sein könnte, doch auch die Möglichkeit eines
späteren Hineinzeichnens der Zeichnung auf ein leeres
Blatt absolut nicht bestritten werden kann; und daß
einige Überlegungen das auch als nicht unwahr-
scheinlich erscheinen lassen; insbesondere die Fremd-