Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 16.1905

DOI Artikel:
Die deutsche Jahrhundert-Ausstellung in der Berliner Nationalgalerie 1906
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5901#0241

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

nässe«

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13

Neue Folge. XVI. Jahrgang 1904/1905 Nr. 30. 21. Juli

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur ".Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommer-
monaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 33 Nummern. Die Abonnenten der Zeitschrift für bildende
Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und
Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für
die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse usw. an.

Die nächste Nummer der Kunstchronik erscheint am 18. August.

DIE DEUTSCHE JAHRHUNDERT-AUSSTELLUNO
IN DER BERLINER NATIONALGALERIE 1906

Unter den vielen Forderungen, die unsere Zeit
mit der Schärfe enger Schlagworte formuliert hat,
stehen zwei im Vordergrund und rufen den heftigsten
Streit der Meinungen hervor. Auf der einen Seite
die berechtigte Sehnsucht nach einer nationalen Ge-
staltung unserer Kunst, auf der anderen der nicht
weniger natürliche Wunsch, ihr all den Reichtum
zu gfben, dessen sie bedarf, um in dem Wettkampf
der Völker und Epochen gleichberechtigt zu bestehen.
Die eine Tendenz trieb oft zu einer engen Begrenzung
der künstlerischen Freiheit, die andere verlockte zu
voreiligen Schlüssen von der Armut der eingeborenen
Kunst und zu einem nicht weniger natürlichen An-
schluß an das ästhetische Gebaren anderer Nationen.

Die den Zeitgenossen gewidmete Kunstpflege, wie
sie zumal in den großen Ausstellungen zutage tritt,
hat seit zehn Jahren ihr Gebiet nach der letztgenannten
Tendenz hin beträchtlich erweitert. Wir verdanken
diesem liberalen Sinne zu viel Freuden, um nicht
dankbar dafür zu sein, verhehlen uns aber nicht,
daß er allein nie imstande sein wird, unserer ein-
heimischen Kunst zur Blüte zu verhelfen und zumal
die ruhige Sammlung zu gestatten, die uns heute
vor allem notwendig erscheint. Er ist dafür zu
sprunghaft, von Zufällen abhängig und besitzt nicht
die sichere Kenntnis der Werte in dem fremden Ge-
biete. Die Künstler des Auslandes, die sich leicht
zu Ausstellungen hergeben, sind nicht immer die
besten und mancher von ihnen ist bei uns mehr zu
Hause als im eigenen Lande. Es gelangen auf diese
Weise bei uns leicht Spezialitäten zu verwirrender
Bedeutung, während auch heute noch gewisse ur-
sprüngliche Werte desselben Kreises, die nicht der
nächsten Gegenwart angehören und deren Besitz uns
größten Vorteil bringen könnte, so gut wie unbekannt
bei uns sind. Viel mehr gewann bei diesem Aus-
tausch der künstlerische Sinn des Empfangenden, des
Liebhabers, Sammlers und Gelehrten, als die Kunst
des Künstlers. Diese fühlt sich schließlich immer
nur daheim zu Hause und muß sich organisch ent-
wickeln, um stark zu werden. Jede Anregung, die

ihr vom eigenen Herde kommt, wird ihr zu unver-
hältnismäßig größerer Wohltat gereichen als das Fremde,
da sie das innere Triebleben der vaterländischen Kunst
nachzufühlen vermag und sich nicht nur als Lieb-
haber, sondern als verwandter Erbe vor ihr fühlt.
Wir sind der Meinung, daß der Besitz Deutschlands
an solchen Werten der Vergangenheit, die uns heute
und in Zukunft dienen können, noch lange nicht
erschöpft ist, ja, daß die wenigsten unter uns im
Grunde wissen, was wir haben. Deutschland hat
im vergangenen Jahrhundert eine erstaunliche Reihe
glänzender Künstler besessen, in denen alles, was
unsere fortgeschrittene Ästhetik heute als wesentlich
für künstlerische Wirkung erkannt hat, mindestens im
Keime und oft in einer Blüte enthalten war, der nur
die Sonne öffentlicher Teilnahme fehlte, um sich zum
Nutzen aller zu entfalten.

Diese Künstler sollen jetzt wiedergefunden und
ihre bedeutendsten Werke in der Hauptstadt des
Reiches zu einer großen Ausstellung vereinigt werden.
Sie sind heute in manchen öffentlichen und privaten
Sammlungen verborgen, zuweilen im Besitz weniger,
der Öffentlichkeit abgeneigter Kreise, immer zerstreut,
so daß bisher der Gesamteindruck nie bestimmt werden
konnte. Manche dieser Künstler wandten sich früher
oder später, von der Not getrieben, Wegen zu, die
ihrer Eigenart weniger vorteilhaft waren, und die be-
rechtigte Oeringschätzung der Gegenwart diesen letzten
Leistungen gegenüber verschweigt, was dieselben
Künstler Besonderes und Wertvolles früher vollbracht
haben. Andere blieben den größten Teil ihres Lebens
der undankbaren Heimat fern und starben im fremden
Lande. Wir brauchen nur, um zwei der bekanntesten
und grellsten Beispiele zu nehmen, an Feuerbach
und Marees zu erinnern, die selbst heute noch nicht
die ihnen gebührende Stelle in der Geschichte Europas,
wenn nicht Deutschlands einnehmen. Hier und in
hundert anderen Fällen gilt es nicht nur eine Tat
der Gerechtigkeit, sondern ein Werk zur Selbsterhaltung
unserer Art zu wirken.

Dies ist die Aufgabe der Deutschen Jahrhundert-
Ausstellung, die am i. Januar 1906 in der von Sr. Maje-
stät dem Kaiser zur Verfügung gestellten National-
galerie eröffnet werden soll. Schon heute glauben
wir Überraschungen voraussagen zu können, die
 
Annotationen