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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 16.1905

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Seemann, Artur: Ein Anti-Böcklin
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https://doi.org/10.11588/diglit.5901#0265

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KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13

Neue Folge. XVI. Jahrgang 1904/1905 Nr. 32. 1. September

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur ■Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommer-
monaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet S Mark und umfaßt 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende
Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und
Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für
die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein 8t Vogler, Rud. Mosse usw. an.

Die nächste Nummer der Kunstchronik erscheint am 29. September.

EIN ANTI-BÖCKLIN.

Vor einiger Zeit wurden in Rom zwei antike
Statuen dicht nebeneinander gefunden, die den Archäo-
logen mancherlei Kopfzerbrechen verursachten. Es
tauchten sogleich die üblichen Probleme auf, die
Fragen nach Alter, Bedeutung, Zusammengehörigkeit.
Ein hervorragender Gelehrter widmete dem Funde
eine eingehende Untersuchung, die hier, da alle
Dokumente zu fehlen schienen, aus dem Werke selbst
fließen mußte. Sein Scharfsinn und seine langjährige
Sehübung ließen ihn alsbald zu der Überzeugung
gelangen, daß die beiden Statuen unmöglich zu-
sammen gehören konnten: Denn die stilkritische
Untersuchung ergab als Resultat, daß zufolge der
Materialbehandlung und Formengebung die Entstehung
beider Werke zeitlich um etwa 150 Jahre auseinander
liegen mußte. In der Wissenschaft ist der Zweifel
erlaubt, ja Pflicht, und so scharfsinnig und kenntnis-
reich der Urheber dieser These verfahren war, seine
Kollegen ließen sich nicht abhalten, ihren Schnabel
kritisch an dem Problem zu wetzen. Und da zeigte
sich denn, daß die beiden Statuen ein eigentümliches
Dokument mitgebracht hatten, das der eben auf-
gestellten These und der ganzen Untersuchung direkt
widersprach, ja beide völlig über den Haufen warf.
Die beiden Statuen hatten nämlich eine gemeinsame
Bruchstelle, das Gewand der einen Figur hatte da
mit dem der anderen zusammen gehangen. Ein
anderer archäologisch geschulter Betrachter hatte sich
über die schwer erklärbaren Bruchstellen, die ihm
aufgefallen waren, Gedanken gemacht; wie der Blitz
durchfuhr ihn der Einfall: sollten die zwei Stellen,
die einander so ähnlich sind, vielleicht aufeinander
passen? Die alsbald vorgenommene Prüfung ergab,
daß die Vermutung richtig war, Bruch paßte auf
Bruch und damit war die Zusammengehörigkeit der
beiden Statuen erwiesen, die schönen Erörterungen
über die Verschiedenheit der Behandlung und der
Beweis, der dadurch geführt werden sollte, zerrannen
in nichts.

Derartige Dinge ereignen sich viel häufiger als
man denkt: denn das meiste bleibt der großen Menge
unbekannt. Nur wo es sich um Dinge von be-
sonderer Wichtigkeit handelt, klingt die große Glocke.

Der Streit über die Echtheit der Krone des Saitaphernes
verstummte sofort, als sich der Urheber der Fälschung
meldete. Vor etwa zwanzig Jahren wurde mir ein
umfangreicher Aufsatz über eine antike, mit Reliefs
verzierte Kupferschale für diese Zeitschrift eingesandt;
es war eine Photographie beigegeben, aus der zu er-
sehen war, daß der Zahn der Zeit etwa ein Drittel
des Werkes zernagt hatte; der Autor des Aufsatzes
beklagte natürlich das Fehlen des Stückes. Bei näherer
Betrachtung der Reliefs fiel mir aber aufr daß ich die
Schale schon in Gipsabguß gesehen haben müsse,
und zwar nicht nur als Bruchstück, sondern als
Ganzes. Diese Beobachtung dem Autor des Aufsatzes
mitzuteilen, hielt ich mich für verpflichtet. Der Ge-
lehrte war, wie begreiflich, ziemlich unwillig über diese
sonderbare Einmischung; er verlangte kategorisch den
Beweis, den ich glücklicherweise alsbald durch Vor-
legung des Gipsabgusses führen konnte. Die an-
geblich antike, Versehrte Schale sollte etwa 1884 ge-
funden worden sein, während der Gipsabguß des
unversehrten Ganzen nachweislich aus dem Jahr 1873
stammte. Die schöne umfangreiche Untersuchung
fiel damit in sich zusammen; aber es war erstaunlich,
welche Menge von Kenntnissen, Scharfsinn und Esprit
an dieses Unding verschwendet war.

Solche Erscheinungen stimmen skeptisch gegen
Erörterungen, die nicht durch Dokumente gestützt
werden. In diesen Tagen hat sich etwas ähnliches
gezeigt, wie die oben angeführten Enttäuschungen.
Herr Meier-Graefe, bekannt als Mitbegründer des
Pan, dieses Euphorion unter den modernen Kunst-
zeitschriften und als Verfasser einer Entwickelungs-
geschichte der modernen Kunst, die sehr interessant
geschrieben ist, aber die Entwickelung durch bunte
Gläser ä travers d'un temperament sieht, hat ein Buch
über den »Fall Böcklin« veröffentlicht. Der Fall
Böcklin! Es ist kein Deutsch Wustmannscher Obser-
vanz, aber seit Nietzsche, der den »Fall Wagner« in
die Welt setzte, wohl erlaubt. Den Titel dieser Sen-
sationsbücher hat Dumas aufgebracht, durch sein
Schauspiel l'affaire Clemenceau, das mit dem »Fall
Clemenceau« verdeutscht wurde. Gewöhnlich soll
dabei irgend etwas, meist ein Vorurteil, zu Fall ge-
bracht werden. Auch hier. Böcklin, dessen Dornen-
krone sich seit der Mitte der achtziger Jahre in einen
 
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