Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 23.1912

DOI Artikel:
Rauecker, Bruno: Das Kunsthandwerk in London: seine Existenzfähigkeit in Gegenwart und Zukunft
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4421#0116

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
DER ERSTE ADLERSCHE MEISTERKURS IN NÜRNBERG

109

DAS KUNSTHANDWERK
IN LONDON
SEINE EXISTENZFÄHIGKEIT
IN GEGENWART UND ZUKUNFT
Von Dr. Bruno Rauecker
MICH wundert: Vom absterbenden Rokoko haben
wir einen vorzüglichen Roman, in aller Tragik
und Feinheit, in aller Ziselierung der Worte und
formalen Gruppierung der Gedanken und Sätze,
die einer finden kann, dem das Entschwinden des bepuderten
Zeitalters nahe geht; — vom sterbenden Handwerk und
seiner Gegenwartsform haben wir noch keine Zeile singen,
über seine letzten Aufzuckungen im Todeskampfe noch
keine Aktüberschriften vernommen. Und doch ist diese
Tragödie einer hinsiechenden Wirtschaftsform erschüttern-
der, gewaltiger und vor allem — notwendiger als ein
Sang über vergangene Zeiten. Käme einer einmal, ein
Meister, mit kraftvoller Gestaltung und unsentimentaler
Einsicht in unser Wirtschaftsleben heran an unser krankes
Handwerk und ließe seine Qual, seine Not, sein Hinsiechen
vor den Menschen aufsteigen als ein Naturgesetz, eine
innere Notwendigkeit: vielleicht könnte er damit mehr
Gutes schaffen, als alle Mittelstandspolitiker der Gegen-
wart, als alle sogenannten Volksfreunde und Handarbeits-
apostel zusammengenommen. Vielleicht kommt ein zweiter
Björnson herauf, dem sich das Elend einer Wirtschaftsform,
die sterben möchte und künstlich abgehalten wird, so sehr
ins Herz frißt, als dem ersten das einstige Elend der Ar-
beiterklasse und ihres dumpfen Ringens. □
□ Wir wollen versuchen, die nüchternen Tatsachen zu er-
bringen, die im Gange des Londoner Handwerkes zu
Grabe das retardierende Moment im letzten Akt bilden.
Wir wollen den Versuch schildern, das Handwerk vermittelst
der Kunst am Leben zu erhalten. Oder mit anderen,
trockenen Worten fragen: Rentiert sich das Londoner Kunst-
handwerk, im Gegensatz genommen zur Kunstindustrie?
Entspricht dem Gütervorrat handwerklich produzierter
Waren die Konsumtion? °
□ Der Preis, den eine Ware verlangen kann, wird für
den Verkäufer bestimmt 1. durch die Dringlichkeit des Be-
dürfnisses, welches der Käufer der Ware zu befriedigen
hofft; 2. durch die Ansicht, die derselbe über die Brauch-
barkeit eines Gutes hat; 3. durch die Zahlungsfähigkeit des
Käufers; 4. durch die anderweitigen Möglichkeiten für den
Käufer, sich in den Besitz eben derselben Ware zu setzen,
o Nun: Was den ersten Punkt betrifft, so besteht für den
geringsten Teil der Londoner Konsumenten kunstgewerb-
licher Handarbeit der Zwang, sich, koste es was es wolle,
den Besitz solch eines Gutes zu verschaffen. Es sei denn,
daß Lord X. über den neuesten Morristeppich des Lord Y.
in ähnliche Entzückungen versetzt wird, wie weiland der
Herr Dorian Gray des Oskar Wilde über eine handgefer-
tigte Keramik. — Hier dürfen solche Ausnahmefälle bei-
seite gelassen werden. °
□ Zweitens: die Ansicht des Londoner Konsumenten über
den Wert kunstgewerblicher Handarbeit und damit wieder
der Preis, welchen er zu zahlen gewillt ist, ist im Laufe
der letzten zwanzig Jahre, seit Gründung der Arts and
Crafts Exhibition Society wesentlich beeinflußt worden zu-
gunsten der Handarbeit. Denn eben diese Society war
es, die das Monopol genoß, geschmacklich produzierend
wie auch geschmacklich erziehend zu wirken. Ihrem weit-


Emil Kellermann: Detail von der Rheingoldkassette
»Siegfried und die Waldvögel« oder »Das Waldweben«. Elfenbein

reichenden Einfluß, ja man kann beinahe sagen, ihrem
autoritativen, monopolistischen Geschmackstraining ist die
allgemein heute in London verbreitete Ansicht zu danken,
daß Leute von Geschmack sich nur handgearbeitetes Kunst-
gewerbe kaufen dürfen. □
□ Aber der Preis einer Ware wird auch drittens bestimmt
durch die Zahlungsfähigkeit des Käufers. — Der märchen-
hafte Reichtum Londons ist unermeßlich, abseits jeder
Schätzung. Folgende Zahlen vermögen nur einigermaßen
einen Begriff zu geben: das Einkommen wurde bei der
letzten Steuererhebung angegeben auf 293271851 £. (Man
multipliziere mit 20 und man bekommt das Einkommen
in Mark!) Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß der
Steuerzahler sein Einkommen gewiß nicht in übertriebener
Höhe anzugeben gewohnt ist. — Die Anzahl der einge-
tragenen Handels- usw. Gesellschaften belief sich auf
41257 mit einem Grundkapital von 1937271851 £. Der
Wert des Hausbesitzes des Verwaltungsbezirkes London
beträgt 54648297 £. Der Leser wird begreifen, daß aus
diesen höchst unromantischen Summen die romantischsten
Geschmacksgelüste nach »beseelter Handarbeit« befriedigt
werden können. °
□ Noch ein vierter Punkt bestimmt den Preis eines Gutes:
die anderweitige Beschaffungsmöglichkeit desselben. —
Diese ist im Londoner Kunstgewerbe eine sehr begrenzte.
Die Industrie, die einzig dadurch, daß sie sich mit der
Geschmacksproduktion abgibt, d. h. Kunstgewerbe produ-
ziert, wesentlich preisverändernd auf dem Londoner Kunst-
 
Annotationen