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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 23.1912

DOI Artikel:
Westheim, Paul: Das Ornament - Die Aufgabe von morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.4421#0080

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ARBEITEN VON RUDOLF BOSSELT
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Büste Dr. Wilhelm Niemeyer. Bronze

DAS ORNAMENT - DIE AUFGABE VON MORGEN
Von Paul Westheim

DIE Fragenreihe um das moderne Ornament herum
blitzt wieder einmal auf. Nicht von seiten der
»Theoretiker«, die dieses Thema weidlich abge-
handelt und die an den Jugendstilfrüchten nicht
gerade Freude erlebt haben. Die Praxis selbst rollt das
Problem auf, indem die Raum- und Flächenkünstler ein-
fach Ornamente anbringen. Sie lassen es sich durch keinerlei
theoretische Einwände nehmen, große und kleine Flächen
mit dekorativem Schmuck zu füllen und, etwas leichtsinnig
geworden, fragen sie nicht nach dem Ursprungsort und
der Ursprungszeit der Formen, von denen sie die An-
regungen beziehen. Sie verzichten auf den Ehrgeiz des
schöpferischen Erfindens, verzichten auf Modernität, um
nicht mit leeren Händen dastehen zu müssen vor einem
Publikum, das nicht Kraft genug hat, auf jegliche Orna-
mentik zu verzichten.
Das Ornament ist und war zu allen Zeiten Symbol.
Es hatte, wenn man einmal so sagen darf, eine heraldische
Geste. Zeichen der Macht, Zeichen des Glaubens, Zeichen
des Besitzes oder Bekenntnisse zu irgend einem Ideal
flackerten auf von dem Gebälk und dem Gestühl, von der

Truhe und dem Gewand, dem Burgtor und dem Harnisch.
Man hatte Farben, für die man stritt, und man scharte
sich beim Spiel wie im Feld um ein Zeichen, das Ehre,
Freiheit und Größe bedeutete. Man heftete diese Zeichen
auf alles, was zum Besitzstand zählte: auf die untergebenen
Menschen, auf die unterworfenen Städte, auf die Wände
der Häuser, die Lehnen der Stühle und die Polster der
Bänke. Man brauchte nicht zu suchen nach Schmuckformen,
denn sie waren da sinnvoll und schön, bekannt und be-
ziehungsreich.
Das Kreuz war das eindrucksvollste Ornament aller
Zeiten. Das Kreuz hat Massen begeistert und Massen sind
zugrunde gerichtet worden durch die Macht der Kreuz-
träger. Kirchen und Paläste, Schulen und Findelhäuser,
Taufbecken und Grabhügel sind ausgeziert worden mit
diesem einen Zeichen. Es war einfach, wie es kaum ein
einfacheres geben kann, und doch vielseitig genug, um
in hunderterlei Variationen aufzutauchen. Bildner aller
Zeiten und aller Völker haben ihre Phantasie schweifen
lassen, um dieser Überschneidung einer Vertikalen und
einer Horizontalen formale Schönheit zu geben. Die mäch-
 
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