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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 16.1973

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Nr. 2
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Buchbesprechungen
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Keulen, Hermann: [Rezension von: Walter Jens, Antiquierte Antike?]
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https://doi.org/10.11588/diglit.33067#0037

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BUCHBESPRECHUNGEN

Walter Jens: Antiquierte Antike? = Sylter Beiträge 1. Münsterdorf. Verlag Hansen &
Hansen; o. J. (1972). 38 S. Kart. DM 3,80.
Es kommt nicht häufig vor, daß ein Vertreter unseres Faches den Elfenbeinturm der
reinen Fachwissenschaft verläßt, um sich in die Niederungen des politischen Tages-
kampfes, wo letztlich die Würfel über Sein oder Nichtsein auch seiner Sache fallen,
zu begeben. Um so mehr ist es zu begrüßen, daß in einem Augenblick, wo wir förmlich
mit dem Rücken zur Wand stehen, in einer Zeit, wo wir angesichts einer auf Operatio-
nalität gedrillten Funktionärselite die Eliminierung der humanistischen Studien in un-
seren Land zu befürchten haben, ein so beredter Apologet wie Walter Jens sich für die
Humaniora einsetzt. — Die humanistische Bildung als ein Politikum, einst und jetzt:
auf diese Formel ließe sich das bringen, was Jens in einem bedeutenden, durch stilisti-
sche Glanzlichter gekennzeichneten Vortrag ausführte, beginnend mit dem Pantheon
der Humanisten im 18./19. Jahrhundert. Sie alle hatten die gleiche Bildung genossen,
alle die gleichen antiken Texte gelesen: für sie gewann der Geist der Antike, in der
Schule vermittelt, revolutionäre Praktikabilität. Hegel maß das von der Französischen
Revolution geschaffene Gemeinwesen an der freien antiken Polis, Nietzsche sagte dem
Christentum den Kampf an im Namen der griechischen Herrenmoral, Marx bestimmte
den Unterschied zwischen der Arbeit des Menschen und der Fähigkeit des Tieres durch
die Einführung jener Kategorie der Schönheit, unter die der deutsche Idealismus, von
Winckelmann bis Hegel, griechische Einrichtungen subsumierte (11/12). „So betrachtet“,
heißt es bei Jens, „war die humanistische Bildung ein Politikum, und zwar sowohl als
Verständigungs- und Veranschaulichungsmittel einzelner Revolutionäre wie als Instru-
ment einer Klasse (der bürgerlichen), die, ausgeschlossen von unmittelbarer politischer
Teilhabe, zumindest mittelbar - kompensatorisch also, im Sinne eines Prestige-Ersatzes
der gesellschaftlich Frustrierten - im Reich des Geistes zu verwirklichen suchte, was ihr
in der Realität versagt war“ (12). Und weiter (13): „Mochte die Befreiung von feu-
dalen Traditionen nur in den Bezirken der Ideen gelingen, mochte die Befreiung, von
den Herrschenden als ein Akt durchschaut, der weniger der Änderung von Verhält-
nissen, als der Änderung von Vorstellungen über diese Verhältnisse galt und damit
realiter (scheinbar) folgenlos blieb, von der nach wie vor regierenden Klasse leichthin
zugestanden worden sein: es war dennoch eine Befreiung; an den progressiven — und
politisch einklagbaren! - Intentionen des Humanismus, im Augenblick seiner bildungs-
mäßigen Organisation nach 1800, ist nicht zu zweifeln“. Indem Schiller, Humboldt,
Hölderlin und Hegel das schlechte Bestehende an der Idealität des Vollkommenen
maßen und die Knechtschaft des Tages mit der vergangenen Freiheit konfrontierten, in-
dem sie also indirekt die Veränderungsbedürftigkeit der bestehenden gesellschaftlichen
Zustände illustrierten, setzten sie das Geschäft der Aufklärung fort (14). Die radikale
Politisierung antiker Muster, die griechischen Vorstellungen den Charakter von Ideo-
logemen verlieh, sollte der Überwindung von konservativen Traditionen und der In-
auguration einer eigenen Bildungswelt dienen (18). Die Beschäftigung mit der Antike
erwies sich hier als eine kritische Disziplin, die sich zweckhafter Indienstnahme entzog.
Somit würde eine Eliminierung der heute als obsolet empfundenen humanistischen Stu-
dien auch die Erinnerung an eine vom Geist bürgerlicher Aufklärung geprägte Epoche
und deren für immer freigesetzte progressiven Elemente abschwächen oder gar ver-
drängen (16). - Trotzdem kann heutige Praxis nicht einfach unreflektierte Übernahme
dieser Elemente sein (17), obwohl gerade hier die Ansätze für eine Neubesinnung in
unseren Tagen zu suchen sind und nicht etwa bei der radikal apolitischen Ästhetisie-
rung der klassischen Bildung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (21ff.), jener
wortlosen, reinen Innerlichkeit, die durch ihre unheilvolle Trennung von Kultur und

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