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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 16.1973

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Nr. 3
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Seeck, Gustav Adolf: Die alten Griechen in der neuen Gesellschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.33067#0096

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Literatur in englischen Übersetzungen kennenlernen sollen. Ohne ein solches
Korrektiv wird es zwangsläufig zu einer perspektivischen Verzerrung kommen,
die zu immer stärkerer Verabsolutierung der subjektiven Vorstellungen führt,
die die moderne Gesellschaft von sich selbst hat. Das müßte als Strukturfehler des
Bildungssystems gelten; denn die Überlebenschancen der Menschheit liegen nicht
in der unreflektierten Verabsolutierung der Industriegesellschaft, sondern in
ihrer ständigen selbstkritischen Kontrolle. Dazu gehört auch, daß sie sich keinen
Täuschungen über ihre historische Relativität und die genetische Struktur ihres
Denkens hingibt. Eine kleine Gruppe von Spezialisten kann nur die wissen-
schaftlichen Voraussetzungen dazu sichern; der eigentliche Zweck ihres Tuns liegt
dagegen nicht in ihrem eigenen Wissen, sondern wird nur dann erreicht, wenn sie
denjenigen Irrtümern entgegenwirken, die das Gesamtsystem ständig neu her-
vorzubringen tendiert. Das Griechische muß also im Bildungssystem nicht nur
vorhanden sein, sondern muß von seinem Platz aus dies System mit steuern
können, wenn es seiner Funktion gerecht werden soll.
9. Ob sich eine solche institutioneile Neuorientierung des Griechischen reali-
sieren läßt, hängt von einer Reihe von Bedingungen ab. Zunächst einmal müßte
die Gräzistik an der Universität bereit sein, sich als Fach mit zwei Zentren zu
verstehen, das also einerseits spezialistisch arbeitet, andererseits aber bestimmte
Grundkenntnisse auf breiter Basis zu vermitteln hat. Daß man im zweiten Be-
reich ohne die griechiche Sprache auskommen muß, ist unvermeidlich, denn der
Platz, den die griechische Antike im Gesamtrahmen der geisteswissenschaftlichen
Fächer beanspruchen darf, kann sich quantitativ nur an der Gesamtheit der
Interessen orientieren. Daraus ergeben sich neue didaktische Erfordernisse; denn
die Gräzistik hat bisher nur gelegentlich versucht, auf die Bedürfnisse anderer
Fächer einzugehen, und ist es nicht gewohnt, über die Griechen an Hand von
Übersetzungen zu reden.
Eine zweite Grundvoraussetzung ist, daß andere Fächer willens sind, ihre
griechische Komponente explizit zu berücksichtigen. Zur Zeit gibt es recht zu-
fällige Konstellationen. Die Medizingeschichte, die der griechischen Antike ein-
geschlossen, hat heute ihren festen Platz in den medizinischen Fakultäten und ist
Bestandteil des Medizinstudiums. Die Geschichte der' Naturwissenschaften spielt
dagegen in den naturwissenschaftlichen Fakultäten nur eine Zufallsrolle. Die
philosophischen Fakultäten nehmen eine Zwischenstellung ein. In der Geschichts-
wissenschaft geht man bis in die Antike zurück, wenn auch das Schwergewicht
in der Neuzeit liegt. Ganz anders ist das Verhältnis in den neueren Philologien;
im großen und ganze i wird dort allein die nationalsprachige Tradition be-
rücksichtigt, so daß die Einwirkungen, die von der Antike herstammen, nur bei-
läufig angesprochen werden. Zu dieser Trennung von nationaler und übernatio-
naler Tradition konnte es kommen, weil in den neueren Philologien ursprüng-
lich damit gerechnet werden durfte, daß die Studierenden von der Schule her
mit der Antike vertraut waren. Das obligatorische Latinum, das davon allein
übriggeblieben ist, bietet keinen Ersatz; denn es soll nur gewisse Sprachkennt-
nisse sichern und läßt die inhaltlichen Fragen selbst der lateinischen Tradition
beiseite. Daß das Griechische im Bildungssystem in immer stärkere Isolierung

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