90
I. Petrus. Ein Corpus, zwei Körper, viele Korporationen
Auch wenn deutliche Unterschiede zwischen vormodernen und moderenen
Wahlverfahren bestehen,423 bleibt für das Sachsen der späten Salier- und frühen
Stauferzeit festzuhalten: Die „persönliche Entscheidung", die den Machtträgem
in den verunsichernden Wirren des Investiturstreits abverlangt wurde,424 er-
reichte mm weite Teile der mittelalterlichen Gesellschaft. Petrus, der im Neuen
Testament die viel zitierten Schlüssel erst zugesprochen bekommt, nachdem er
auf die Anfrage seines Herrn und Meisters selbst die richtige Entscheidung ge-
troffen hat (Matthäus 16, 13-20), forderte zur persönlichen Positionierung her-
aus: zunächst vor allem Päpste und Kaiser, dann Bischöfe und Fürsten, bald aber
auch Städte und Verbände, Gruppen und Einzelpersonen, Männer und Frauen.
10. Fischer - Schlosser - Pförtner. Petrus als Patron
spezifischer Berufsgruppen
Petrus wurden bald auch neue Aufgabenbereiche zugewiesen - nicht nur in der
gezeigten formalen Hinsicht, sondern auch in funktionaler: für einzelne Be-
rufsgruppen. Dabei spielte zunächst einmal seine biblisch verbürgte Tätigkeit als
Fischer eine Rolle, und dies in einem weitaus größeren Maße, als es die unmit-
telbare Intention und gängige Rezeption des Schrifttexts vorsah. Während der
Fischer Simon Petrus nach biblischem Zeugnis von Christus zum „Menschen-
fischer" gemacht worden war,425 kehrte der ursprüngliche Beruf nun zu seinen
profanen Grundlagen zurück. Das sonst so sehr vom vierfachen Schriftsinn in-
spirierte Hochmittelalter scheint im Zuge der Entdeckung bestimmter mensch-
licher Seiten des Gottessohnes auch die unmittelbare Lebenswelt von dessen
erstem Apostel zunehmend in den Blick genommen zu haben. Der Wandel in
literarischen, musikalischen wie bildlichen Darstellungen von Christus ist be-
kannt: Das traditionell und weiterhin auch in der Ostkirche weniger beachtete
Leiden Christi stand nun im Vordergrund,426 und neben diesem seinem
menschlichen Ende fand auch sein irdischer Beginn ein bis dahin nicht gekanntes
Interesse. Jesu Menschwerdung wurde sogar zum Gegenstand von Spielen und
Krippen, obgleich nur Matthäus und, ausführlicher noch, Lukas Geburt und
frühe Jugend schildern. Einige Details finden sich sogar nur im unkanonischen
Proto-Evangelium des Jakobus: Elemente etwa wie Ochs und Esel und die über
423 Auf Unterschiede zwischen vormodemen und gegenwärtigen Wahlen verweisen zu Recht
Schulz, Die Freiheit des Bürgers, und Stollberg-Rilinger/Krischer (Hgg.), Herstellung und Dar-
stellung von Entscheidungen; vgL oben Anm. 403.
424 Keller, Die persönliche Entscheidung; vgL auch oben Anm. 342
425 Vgl. Markus 1, 16-18/ Matthäus 4, 18-20. Dem Lukas-Evangelium (5, 1-11) zufolge stieg Jesus
sogar in das Boot des später Petrus genannten Simon, um von diesem aus zu lehren, ermutigte
ganz gezielt den erfolglosen Fischer zu einem dann tatsächlich wundersam großen Fang und
hieß ihn erfolgreich, fortan Menschen zu fischen. Nach Johannes 1,42 nannte Jesus Simon Petrus
gleich bei dessen Berufung zum Jünger Kephas, Petrus. Vgl. dazu auch oben Anm. 199.
426 Vgl. Braun-Niehr, Art. Passion, Sp. 1766 f.
I. Petrus. Ein Corpus, zwei Körper, viele Korporationen
Auch wenn deutliche Unterschiede zwischen vormodernen und moderenen
Wahlverfahren bestehen,423 bleibt für das Sachsen der späten Salier- und frühen
Stauferzeit festzuhalten: Die „persönliche Entscheidung", die den Machtträgem
in den verunsichernden Wirren des Investiturstreits abverlangt wurde,424 er-
reichte mm weite Teile der mittelalterlichen Gesellschaft. Petrus, der im Neuen
Testament die viel zitierten Schlüssel erst zugesprochen bekommt, nachdem er
auf die Anfrage seines Herrn und Meisters selbst die richtige Entscheidung ge-
troffen hat (Matthäus 16, 13-20), forderte zur persönlichen Positionierung her-
aus: zunächst vor allem Päpste und Kaiser, dann Bischöfe und Fürsten, bald aber
auch Städte und Verbände, Gruppen und Einzelpersonen, Männer und Frauen.
10. Fischer - Schlosser - Pförtner. Petrus als Patron
spezifischer Berufsgruppen
Petrus wurden bald auch neue Aufgabenbereiche zugewiesen - nicht nur in der
gezeigten formalen Hinsicht, sondern auch in funktionaler: für einzelne Be-
rufsgruppen. Dabei spielte zunächst einmal seine biblisch verbürgte Tätigkeit als
Fischer eine Rolle, und dies in einem weitaus größeren Maße, als es die unmit-
telbare Intention und gängige Rezeption des Schrifttexts vorsah. Während der
Fischer Simon Petrus nach biblischem Zeugnis von Christus zum „Menschen-
fischer" gemacht worden war,425 kehrte der ursprüngliche Beruf nun zu seinen
profanen Grundlagen zurück. Das sonst so sehr vom vierfachen Schriftsinn in-
spirierte Hochmittelalter scheint im Zuge der Entdeckung bestimmter mensch-
licher Seiten des Gottessohnes auch die unmittelbare Lebenswelt von dessen
erstem Apostel zunehmend in den Blick genommen zu haben. Der Wandel in
literarischen, musikalischen wie bildlichen Darstellungen von Christus ist be-
kannt: Das traditionell und weiterhin auch in der Ostkirche weniger beachtete
Leiden Christi stand nun im Vordergrund,426 und neben diesem seinem
menschlichen Ende fand auch sein irdischer Beginn ein bis dahin nicht gekanntes
Interesse. Jesu Menschwerdung wurde sogar zum Gegenstand von Spielen und
Krippen, obgleich nur Matthäus und, ausführlicher noch, Lukas Geburt und
frühe Jugend schildern. Einige Details finden sich sogar nur im unkanonischen
Proto-Evangelium des Jakobus: Elemente etwa wie Ochs und Esel und die über
423 Auf Unterschiede zwischen vormodemen und gegenwärtigen Wahlen verweisen zu Recht
Schulz, Die Freiheit des Bürgers, und Stollberg-Rilinger/Krischer (Hgg.), Herstellung und Dar-
stellung von Entscheidungen; vgL oben Anm. 403.
424 Keller, Die persönliche Entscheidung; vgL auch oben Anm. 342
425 Vgl. Markus 1, 16-18/ Matthäus 4, 18-20. Dem Lukas-Evangelium (5, 1-11) zufolge stieg Jesus
sogar in das Boot des später Petrus genannten Simon, um von diesem aus zu lehren, ermutigte
ganz gezielt den erfolglosen Fischer zu einem dann tatsächlich wundersam großen Fang und
hieß ihn erfolgreich, fortan Menschen zu fischen. Nach Johannes 1,42 nannte Jesus Simon Petrus
gleich bei dessen Berufung zum Jünger Kephas, Petrus. Vgl. dazu auch oben Anm. 199.
426 Vgl. Braun-Niehr, Art. Passion, Sp. 1766 f.