2. Minden - Stadt und Bistum
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erklären ließe, wenn die Gebeine des Gorgonius erst kurz zuvor transferiert
worden wären.1074 Die Frage nach der Herkunft der Reliquien lässt Honselmann
aber bewusst offen, und Dolbeau rekonstruiert in erster Linie das überliefe-
rungsgeschichtlich widersprüchliche, in Minden aufgrund kontaminierter Tra-
ditionsstränge entstandene zeitgenössische Verständnis von der römischen
Abkunft der Reliquien.1075 Betrachtet man aber die Situation in Sebaste und Ni-
komedien des Frühmittelalters, so erscheinen Translationen von dort eher un-
wahrscheinlich. Aufgrund ikonoklastischer Kontroversen sind insbesondere im
7. Jahrhundert zahlreiche Reliquien, oft ganze Leiber, aus dem Osten nach Rom
transferiert worden.1076 Die in der modernen hagiographischen Forschung kri-
tisch hinterfragte Angabe der Quellen, die Corpora der jeweiligen Heiligen seien
aus der Ewigen Stadt erfolgt, könnten hierin ihren wahren Kern haben. Was die
Konkurrenzsituation zwischen den verschiedenen Gorgonius-Translationen in
Minden und Gorze sowie ferner in Marmoutier angeht, wäre auch ein anderer
Weg denkbar: Gorze wie Minden könnten Reliquien verschiedener Heiliger
gleichen Namens erhalten haben: Gorze von der via Labicana, Minden vom
Verwahrungsort der Reliquien aus Sebaste. Es erscheint zunächst erstaunlich,
dass die Zeitgenossen auf diese Idee nicht mehr gekommen sind. Es wäre doch
ein Leichtes gewesen, in Gorze den originär römischen Heiligen, in Minden
hingegen den in Sebaste gemarterten und später, so man den Quellen Glauben
schenken darf, nach Rom überführten Heiligen zu verehren.1077 Eine einzige
Handschriftenvariante scheint in diese Richtung zu deuten1078 - doch ein mög-
licherweise dahinter stehendes Konzept, so es denn tatsächlich gezielt ersonnen
worden wäre, blieb unvollendet. Offenbar vermochte man auch in Gorze die
Heiligen von Rom, Sebaste und Nikomedien nicht mehr auseinanderzuhalten.
Darüber hinaus profitierten beide Seiten, Gorze wie Minden, von der gemein-
samen Verehrung eines einzigen, ,geeinten Gorgonius'. Möglicherweise war
auch der Translationsbericht von dessen Gebeinen ins Kloster Marmoutier, einer
1074 Honselmann, Reliquientranslationen nach Sachsen, S. 169 f. Honselmann plädiert für die frühe
Translation der Gorgonius-Reliquien bereits um 800 nach Minden als „Gründungsgeschenk"
zusammen mit den ebenfalls römischen Heiligen Laurentius und Alexander.; positiv aufge-
griffen von Dolbeau, Un panegyrique, S. 40 [348] mit Anm. 19.
1075 VgL Dolbeau, Un panegyrique anonyme, und Honselmann, Reliquientranslationen nach Sachsen,
ebd.
1076 Für diesen Hinweis danke ich Herrn Prof. Dr. Johannes Grobe (Rom), der sich mit der Translation
verschiedener Märtyrer aus Sebaste nach Sant'Apollinare in Rom beschäftigt hat. Neben Ge-
beinen scheint dies auch für Bilder gegolten zu haben: Eine Authentik der Kapelle Sancta
Sanctorum jedenfalls geht offenbar auf eine Abbildung Christi zurück, die durch Ikonoklasten
verbrannt worden war; vgL Galland, Les authentiques, S. 120, Nr. 73 (mit Abb.). Zur Darstellung
Gottes im Bild - in der Laterankapelle Sancta Sanctorum ebenso wie im Schweißtuch der Veronica
in St. Peter - s. Kessler, Spiritual Seeing, und ders., Seeing Medieval Art.
1077 VgL BHL 3614-3622 (Bd. 1, S. 538-540 und vor allem, mit genauer Unterscheidung, BHL Novum
Supplementum S. 398 f.) und Jacobsen, Miracula s. Gorgonii, S. 60 mit Anm. 136 (Lit.).
1078 VgL die vom Editor Peter Christian Jacobsen ursprünglich erwogene Variante der Handschrift V
im Brief Milos, die er nach persönlicher Autopsie des Manuskriptes aber wieder verworfen hat:
Jacobsen, Miracula s. Gorgonii, S. 66 mit Anm. 148.
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erklären ließe, wenn die Gebeine des Gorgonius erst kurz zuvor transferiert
worden wären.1074 Die Frage nach der Herkunft der Reliquien lässt Honselmann
aber bewusst offen, und Dolbeau rekonstruiert in erster Linie das überliefe-
rungsgeschichtlich widersprüchliche, in Minden aufgrund kontaminierter Tra-
ditionsstränge entstandene zeitgenössische Verständnis von der römischen
Abkunft der Reliquien.1075 Betrachtet man aber die Situation in Sebaste und Ni-
komedien des Frühmittelalters, so erscheinen Translationen von dort eher un-
wahrscheinlich. Aufgrund ikonoklastischer Kontroversen sind insbesondere im
7. Jahrhundert zahlreiche Reliquien, oft ganze Leiber, aus dem Osten nach Rom
transferiert worden.1076 Die in der modernen hagiographischen Forschung kri-
tisch hinterfragte Angabe der Quellen, die Corpora der jeweiligen Heiligen seien
aus der Ewigen Stadt erfolgt, könnten hierin ihren wahren Kern haben. Was die
Konkurrenzsituation zwischen den verschiedenen Gorgonius-Translationen in
Minden und Gorze sowie ferner in Marmoutier angeht, wäre auch ein anderer
Weg denkbar: Gorze wie Minden könnten Reliquien verschiedener Heiliger
gleichen Namens erhalten haben: Gorze von der via Labicana, Minden vom
Verwahrungsort der Reliquien aus Sebaste. Es erscheint zunächst erstaunlich,
dass die Zeitgenossen auf diese Idee nicht mehr gekommen sind. Es wäre doch
ein Leichtes gewesen, in Gorze den originär römischen Heiligen, in Minden
hingegen den in Sebaste gemarterten und später, so man den Quellen Glauben
schenken darf, nach Rom überführten Heiligen zu verehren.1077 Eine einzige
Handschriftenvariante scheint in diese Richtung zu deuten1078 - doch ein mög-
licherweise dahinter stehendes Konzept, so es denn tatsächlich gezielt ersonnen
worden wäre, blieb unvollendet. Offenbar vermochte man auch in Gorze die
Heiligen von Rom, Sebaste und Nikomedien nicht mehr auseinanderzuhalten.
Darüber hinaus profitierten beide Seiten, Gorze wie Minden, von der gemein-
samen Verehrung eines einzigen, ,geeinten Gorgonius'. Möglicherweise war
auch der Translationsbericht von dessen Gebeinen ins Kloster Marmoutier, einer
1074 Honselmann, Reliquientranslationen nach Sachsen, S. 169 f. Honselmann plädiert für die frühe
Translation der Gorgonius-Reliquien bereits um 800 nach Minden als „Gründungsgeschenk"
zusammen mit den ebenfalls römischen Heiligen Laurentius und Alexander.; positiv aufge-
griffen von Dolbeau, Un panegyrique, S. 40 [348] mit Anm. 19.
1075 VgL Dolbeau, Un panegyrique anonyme, und Honselmann, Reliquientranslationen nach Sachsen,
ebd.
1076 Für diesen Hinweis danke ich Herrn Prof. Dr. Johannes Grobe (Rom), der sich mit der Translation
verschiedener Märtyrer aus Sebaste nach Sant'Apollinare in Rom beschäftigt hat. Neben Ge-
beinen scheint dies auch für Bilder gegolten zu haben: Eine Authentik der Kapelle Sancta
Sanctorum jedenfalls geht offenbar auf eine Abbildung Christi zurück, die durch Ikonoklasten
verbrannt worden war; vgL Galland, Les authentiques, S. 120, Nr. 73 (mit Abb.). Zur Darstellung
Gottes im Bild - in der Laterankapelle Sancta Sanctorum ebenso wie im Schweißtuch der Veronica
in St. Peter - s. Kessler, Spiritual Seeing, und ders., Seeing Medieval Art.
1077 VgL BHL 3614-3622 (Bd. 1, S. 538-540 und vor allem, mit genauer Unterscheidung, BHL Novum
Supplementum S. 398 f.) und Jacobsen, Miracula s. Gorgonii, S. 60 mit Anm. 136 (Lit.).
1078 VgL die vom Editor Peter Christian Jacobsen ursprünglich erwogene Variante der Handschrift V
im Brief Milos, die er nach persönlicher Autopsie des Manuskriptes aber wieder verworfen hat:
Jacobsen, Miracula s. Gorgonii, S. 66 mit Anm. 148.