Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Studien und Skizzen zur Gemäldekunde — 4.1918/​1919

DOI article:
Risse und Sprünge in Gemälden, [1]
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.52777#0073

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
63

die Kohäsion des Bindemittels geltend macht. So malt man ganz sicher mit
Ölfarbe auf Leimgrund und auf Ölgrund oder auf Untermalungen in Öl-
farbe. Bei Eitempera muß sogar die Unterlage vollkommen hart geworden
sein, ehe man wieder in Eitempera darauf malen kann. Denn bei noch
weicher oder feuchter Temperaunterlage kommt die Kohäsion des Binde-
mittels so stark zum Ausdruck, daß die neuen Pinselstriche sogleich von
den unteren Schichten einiges mit fortnehmen, wodurch eine unberechenbare
Fleckigkeit und Rauhigkeit der Malerei verschuldet wird Echte Eitempera,
sehr dick aufgetragen, neigt zu regelmäßiger Sprungbildung, ähnlich der, die
sich auf einem Uhrgläschen bildet, wenn man darauf Hühnerei trocknen
ließ. Nach den Rändern des Gläschens zu, wo die dünnere Schicht am
raschesten trocknete, bilden sich nach streng radiärer Anordnung feine
regelmäßige Sprünge, die an Reihen von Klaviertasten oder von langen
Zähnen erinnern. Beim Trocknen bildete sich eine Spannung, die in kreis-
förmigen Linien mit gleichem Mittelpunkt wie am Gläschen selbst verliefen.
Quer darauf entstanden die Sprünge. Durch die mannigfachen Lagen und
Dicken der Pinselstriche wird begreiflicherweise auf Gemälden die Ange-
legenheit viel mehr verwickelt, so daß nur ganz regelmäßig aufgetragene
Schichten eine gleiche Sprungbildung aufweisen.
Bei besonders sorgfältig gemalten, aus den besten Materialien herge-
stellten Bildern läßt sich oft nach Jahrhunderten kaum eine Spur von Sprung-
bildung feststellen. Das Alter muß in solchen Fällen aus anderen Merkmalen
erschlossen werden. Manche flandrische Bilder, z. B. aus der Zeit und Gruppe
des jüngeren Dav. Teniers, sind ohne Risse auf uns gekommen.
Zu den glatt und unversehrt erhaltenen Gemälden treten manche Bilder
in schroffen Gegensatz, an denen Zerstörungen mannigfacher Art die Farben-
schicht durchfurcht haben, so daß wir bei deren Anblick an manche ver-
witterte Baumrinden gemahnt werden. In meinem Handbuch der Gemälde-
kunde ist auf die Gesetzmäßigkeit hingewiesen, nach der auch die scheinbar
regellosen Risse in der Baumrinde entstehen. Auch auf den Gemälden läßt
sich gewöhnlich die Reihe der Veranlassungen, der sogenannte kausale Zu-
sammenhang, klar überblicken.
Die Rißbildungen, die während des ersten Trocknens entstanden sind,
kommen an alten Bildern gewiß selten vor, wogegen sie an modernen Ge-
mälden häufig genug zu sehen sind. Das oft unsichere Herumversuchen,
Probieren, Experimentieren beim künstlerischen Schaffen, ohne vorher alles
Material durchprobiert zu haben, bildet mit ein kennzeichnendes Merkmal
der Kunst des späten 19. und des laufenden Jahrhunderts. An älteren Ge-
mälden findet man, wenn überhaupt, fast immer Sprünge und Risse, die erst
nach dem vollkommenen Hartwerden der Farben entstanden sind, sei es
durch mechanische Biegungen verschiedener Art des Malgrundes, sei es
durch die unvermeidlichen Schwankungen der Temperatur und der Feuch-
tigkeit. Holz und „Leinwand“ (es ist zumeist Hanfgewebe, was die Leser
dieser Studien und Skizzen längst wissen) sind stark hygroskopisch, das
heißt sie ziehen Feuchtigkeit aus der Luft an und vergrößern und verkleinern
ihr Volumen, ihren Umfang. Holz bläht sich im Wasser merklich auf, Hanf-
gewebe schrumpft darin. Bei Gemälden wird also ein jäher Wechsel von
starker Feuchtigkeit und auffallender Trockenheit in der Atemluft zu Um-
fangsveränderungen führen, die der nicht hygroskopischen Farbenschicht
1*
 
Annotationen