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RISSE UND SPRÜNGE IN GEMÄLDEN.
Was ist nicht schon alles gerissen und gesprungen in dieser Welt! Die
mächtigsten Reiche des Altertums, des Mittelalters sind geborsten, zersplittert.
Welche Reiche in neuester Zeit zerrissen worden, bildet gerade jetzt Haupt-
ereignisse, an denen man nicht vorbei kann. Neuestens reißt auch die Ge-
duld der Völker, die sich nicht mehr vorgaukeln lassen, daß jeder Kleine
und Kleinste für Könige, Kaiser und andere Geldgrößen und ihre Pläne
Gut und Blut aufzuopfern verpflichtet sei. Der-gezwungene „Freiwillige“ ist
als Lächerlichkeit erkannt. Der Befehl zum Mord wird als Verbrechen ge-
fühlt, auch wenn der Befehl von ganz oben kommt. Und so könnte man
fortfahren. Wir gehen einer besseren Zeit entgegen, und wenn auch noch
manches zerrissen werden muß, ehe die Menschheit sich von dem schweren
Rückfall ins Tierische, Bestialische erholen wird, der im Weltkrieg zum Aus-
druck gekommen ist, so dämmert doch wenigstens in den meisten Köpfen
einige Vernunft auf. Der Zerfall des Veralteten, unbrauchbar Gewordenen ist
nicht aufzuhalten. Auch dies, wie alles, vollzieht sich nach ehernen Natur-
gesetzen, denen kein Dünkel auf Herrschersitzen standhalten kann.
■ * ■ ;■ .*
*
Wir finden von diesen allgemeinen Erkenntnissen leicht zu den Ge-
mälden heran. Denn auch ihr Heil und Wehe wird von zwingenden Vor-
aussetzungen bestimmt. Auch Gemälde werden alt und überleben sich. Der
Durchschnittsgeschmack, die Mode von gestern und vorgestern sind nicht
mehr herrschend, und das Altern ist gelegentlich zu verzögern, aber nicht
ganz zu beseitigen. Denn: Alles, was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht.
Zu den beachtenswerten Alterserscheinungen an Gemälden gehören
sicher neben vielen anderen die Risse und Sprünge. Ich darf es für mich
in Anspruch nehmen, daß in der ersten Auflage meines Handbuches der
Gemäldekunde zuerst auf die physikalischen Vorgänge hingewiesen wurde,
denen die Sprünge in Gemälden ihre Entstehung verdanken.*) Es sind Vor-
gänge, die sich beim Austrocknen der Farbenschicht und bei Größenver-
änderungen der Unterlagen und Überzüge unter gegebenen Umständen mit
Notwendigkeit abspielen müssen. Wo eine Spannung entsteht, welcher der
gespannte Stoff, das Material, nicht mehr durch seine Kohäsion (seinen
inneren Zusammenhang) Widerstand leisten kann, entsteht ein Riß, und zwar
senkrecht auf die Richtung der größten Spannung.**) Für die Stoffe,
die als Malgrund dienen, z. B. Holz, Leinwand, verschiedene Metalle, Stein-
arten, Mörtel, Elfenbein, Pappe, Papier, Pergament, Glas, hat die Literatur
über Physik und über technische Angelegenheiten längst vorgearbeitet und
die Begriffe über Festigkeit, Brüchigkeit, Dauerhaftigkeit geklärt. Bei Gemälden
kommen selten andere Festigkeiten in Gefahr als die „relative“, das ist der
Widerstand, den ein Stoff dem Abbiegen entgegensetzt (Biegungsfestigkeit),
und die „absolute“ (auch Zugfestigkeit genannt), die beim Auseinanderzerren
*) In der zweiten Auflage S. lOOff. Die zweite Auflage ist vergriffen. Eine weitere
ist längst vorbereitet und dürfte in besseren Zeiten bald erscheinen.
**) Riß und Sprung wird zunächst gleichbedeutend gebraucht.
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RISSE UND SPRÜNGE IN GEMÄLDEN.
Was ist nicht schon alles gerissen und gesprungen in dieser Welt! Die
mächtigsten Reiche des Altertums, des Mittelalters sind geborsten, zersplittert.
Welche Reiche in neuester Zeit zerrissen worden, bildet gerade jetzt Haupt-
ereignisse, an denen man nicht vorbei kann. Neuestens reißt auch die Ge-
duld der Völker, die sich nicht mehr vorgaukeln lassen, daß jeder Kleine
und Kleinste für Könige, Kaiser und andere Geldgrößen und ihre Pläne
Gut und Blut aufzuopfern verpflichtet sei. Der-gezwungene „Freiwillige“ ist
als Lächerlichkeit erkannt. Der Befehl zum Mord wird als Verbrechen ge-
fühlt, auch wenn der Befehl von ganz oben kommt. Und so könnte man
fortfahren. Wir gehen einer besseren Zeit entgegen, und wenn auch noch
manches zerrissen werden muß, ehe die Menschheit sich von dem schweren
Rückfall ins Tierische, Bestialische erholen wird, der im Weltkrieg zum Aus-
druck gekommen ist, so dämmert doch wenigstens in den meisten Köpfen
einige Vernunft auf. Der Zerfall des Veralteten, unbrauchbar Gewordenen ist
nicht aufzuhalten. Auch dies, wie alles, vollzieht sich nach ehernen Natur-
gesetzen, denen kein Dünkel auf Herrschersitzen standhalten kann.
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Wir finden von diesen allgemeinen Erkenntnissen leicht zu den Ge-
mälden heran. Denn auch ihr Heil und Wehe wird von zwingenden Vor-
aussetzungen bestimmt. Auch Gemälde werden alt und überleben sich. Der
Durchschnittsgeschmack, die Mode von gestern und vorgestern sind nicht
mehr herrschend, und das Altern ist gelegentlich zu verzögern, aber nicht
ganz zu beseitigen. Denn: Alles, was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht.
Zu den beachtenswerten Alterserscheinungen an Gemälden gehören
sicher neben vielen anderen die Risse und Sprünge. Ich darf es für mich
in Anspruch nehmen, daß in der ersten Auflage meines Handbuches der
Gemäldekunde zuerst auf die physikalischen Vorgänge hingewiesen wurde,
denen die Sprünge in Gemälden ihre Entstehung verdanken.*) Es sind Vor-
gänge, die sich beim Austrocknen der Farbenschicht und bei Größenver-
änderungen der Unterlagen und Überzüge unter gegebenen Umständen mit
Notwendigkeit abspielen müssen. Wo eine Spannung entsteht, welcher der
gespannte Stoff, das Material, nicht mehr durch seine Kohäsion (seinen
inneren Zusammenhang) Widerstand leisten kann, entsteht ein Riß, und zwar
senkrecht auf die Richtung der größten Spannung.**) Für die Stoffe,
die als Malgrund dienen, z. B. Holz, Leinwand, verschiedene Metalle, Stein-
arten, Mörtel, Elfenbein, Pappe, Papier, Pergament, Glas, hat die Literatur
über Physik und über technische Angelegenheiten längst vorgearbeitet und
die Begriffe über Festigkeit, Brüchigkeit, Dauerhaftigkeit geklärt. Bei Gemälden
kommen selten andere Festigkeiten in Gefahr als die „relative“, das ist der
Widerstand, den ein Stoff dem Abbiegen entgegensetzt (Biegungsfestigkeit),
und die „absolute“ (auch Zugfestigkeit genannt), die beim Auseinanderzerren
*) In der zweiten Auflage S. lOOff. Die zweite Auflage ist vergriffen. Eine weitere
ist längst vorbereitet und dürfte in besseren Zeiten bald erscheinen.
**) Riß und Sprung wird zunächst gleichbedeutend gebraucht.
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