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Studien und Skizzen zur Gemäldekunde — 4.1918/​1919

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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.52777#0120

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Sittenbildmalerei Jos. Kinzel. Temples Naturforscher in seinem Arbeitszimmer
zeigt eine neuerliche Vertiefung des unermüdlichen frischen Talents, und
so könnten noch viele andere in freundlichem Sinn genannt werden. Den
neueren Richtungen hat man im Künstlerhaus zum erstenmal alle Säle des
ersten Stockwerkes eingeräumt. Dort stellt der „Bund der geistig Tätigen“
aus, dessen Vorführungen von den Besuchern vielfach bespöttelt und ver-
höhnt werden, so sehr, daß man auf den Mitteilungen des Bundes allerlei
Beschimpfungen aufgekritzelt findet, vom „Steinhof“, von „Narren“ u. dgl.
Ich meine, daß diese Angriffe so ganz im allgemeinen ungerechtfertigt sind
und weiter gar nichts bedeuten, als daß sich die Masse nicht so leicht ins
ungewöhnliche Neue findet. Es sind freilich innerhalb der neuen Richtungen
auch schwache Arbeiten da, die man ruhig als wüstes Gesudel, als Ver-
schwendung von Leinwand und Farbe bezeichnen darf. Aber die Berech-
tigung neuer Bahnen läßt sich nicht bestreiten und sollte nicht bespöttelt
werden. Die Kunst der Naturnachahmung wird durch die Fortschritte der
Farbenphotographie, der Autochrome, immer mehr eingeengt. Wenn man
nahe daran ist, auf photochemischem Weg die feinsten Stimmungen der
Landschaft, der Innenräume, der Gesichtszüge bleibend festzuhalten, verliert
es immer mehr an Reiz, anzusehen, wie sich einer mit Pinsel und Stift be-
müht, die Sache doch nicht so getreu zu treffen, als es der leblose Apparat
vermag. Die künstlerische Erfindung wird also immer mehr geschätzt werden,
je weiter die Leistungen des Apparats emporkommen. Vorläufig ist freilich
die höchste Stufe der Farbenphotographie weder erreicht, noch sind die
erreichbaren Stufen bequem zugänglich, und die Haltbarkeit der Proben ist
noch gering, wonach also die realistische Malerei einstweilen noch
lange nicht antiquiert ist. Zudem steht der Malerei auf realistischer
Grundlage nichts im Weg, Dinge zu erfinden, die bei allem Realismus nicht
von der Natur abgeschrieben werden können. Nur baut die realistische
Malerei immer mit Motiven, die aus der Natur geholt sind, und in ihrer
Gesamtheit bedenkt sie stets eine Wirkung, ähnlich der, die wir von der
Außenwelt haben. Warum aber soll man nicht Stimmungen auch in anderer
Weise zum Ausdruck bringen, als durch Wiedergabe der Natur. Dahin
zielen die bedeutenden Werke der neuesten Richtungen. Diese wollen nicht
Abbildungen von etwas Bestimmtem geben, sondern durch Verbindungen
von Linien und Farben ein inneres Drängen auf der Fläche sichtbar machen:
exprimieren. Daß dabei immer noch Formen und Färbungen aus der Natur
anklingen müssen, ist sicher, da auch der äußerste Expressionismus nicht
aus der Erdenwelt hinaus kann. Aber es hat doch schon seit Jahrtausenden
neben den Bestrebungen der Naturnachahmung auch stilisierende Richtungen
gegeben. Und viele Expressionisten sind Stilisten von der äußersten Linken.
Sie übertreiben das Stilisieren. Ihre Kunst führt um so mehr zu etwas Be-
deutsamem, wenn sie die Natur nicht verstümmelt, sondern wenn sie frei
erfindet, wenn sie nicht vermeint, ein Haus, einen Baum, ein Antlitz, eine
Gestalt wiederzugeben dadurch, daß absichtlich alle Gesetze des Sehens auf
den Kopf gestellt werden, sondern wenn sie sich mit einer ornamentalen
Stimmung begnügt. Verkehrte Perspektive, verrenkte Figuren, schief stehende
Häuser im Bild bleiben immer Unsinn, wenn sie so gemacht sind, als ob
sie eine Abbildung aus der Umgebung bieten sollten. Verzichtet aber der
Maler auf jede realistische Wirkung, so bewegt er sich eben in einem anderen
 
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