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1899.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.
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klar ersehen läfst,9) eine Reaktion gegen das
Auftreten seines Vorgängers Azelin. Während
bis auf diesen die alte „bäuerliche Einfalt" im
Kreise der Chorherren geherrscht hatte, „schlich
sich unter dessen Regierung eine anspruchs-
volle, höfische Lebensart ein, die, weichlicher
in der Kleidung, üppiger in der Kost, sorg-
fältiger in allen Beziehungen der Lebensein-
richtung, mehr Zuneigung, als Furcht wecken
wollte, und, nach Lockerung der Strenge der
Zucht, des Klosters klösterliche Schranken
durchbrach." Und diesem Auftreten im all-
gemeinen entsprach auch Azelins Baulust. Alt-
frieds Dom war am 23. März 1046 durch Brand
vernichtet worden. Anstatt nun, wie Hezilo
später that, an der alten Stelle mit Benutzung
der unversehrten Osttheile einen Neubau auf-
zuführen, verlegte Azelin diesen nach Westen
und errichtete ecclesie edificationem longe priori
capaciorem. Doch wurde der Bau in technischer
Hinsicht nicht sorgfältig genug ausgeführt, ge-
rieth ins Stocken und blieb unvollendet, aber
man liest unschwer aus den Worten derFundatio
heraus, dafs man im Kreise des Hezilo, dem
der Bericht entstammt, auch in diesem Bau eine
schwere Lockerung der Sitten durch Azelin er-
kannte und in wohlthuenden Gegensatz dazu
die Wirksamkeit Hezilos stellte, der sich streng
an das Gegebene und Ueberlieferte hielt, ja
dieses in der Form des graden Chorschlusses
seines Doms noch überbot und dafür auch das
Glück genofs, seinen bescheideneren Bau zu
Ende gebracht zu sehen.
Damit stimmt nun vortrefflich der Umstand
überein, dafs der grade Chorschlufs einem be-
stimmten Bausystem entspricht, das auf der
christlich-ethischen Grundlage einer möglichst
grofsen Einfachheit auch bei den Gottes-
häusern beruht. Hezilo hat drei grofse kirch-
liche Bauten in Hildesheim ausgeführt, den
Dom (1061 geweiht), die Kollegiatkirche auf
dem Moritzberg (vor 1068) und das Kreuzstift.
Von diesen hat er das letztere, dessen Kirche
den halbrunden Chorschlufs besitzt, ebenso erst
gegen Ende seines Lebens erbaut, wie die Apsis
des Domes, die an Stelle des ursprünglich
graden Schlusses trat, beides also zu einer Zeit
als sein berühmter Architekt, der Hildesheimer
Dompropst Benno, bereits den Bischofsstuhl in
Osnabrück bestiegen hatte (1068), somit für
/Vgl. auch Bertram «Hildesh. Bischöfe« S.41 ff.
Hildesheimer Bauten nicht mehr in Betracht
kam. Wenn also in Bennos Lebensbeschrei-
bung10) seine Hildesheimensis structura gerühmt
wird, so kam es sich nur um den Hezilodom
in seiner ursprünglichen Gestalt und um die
Moritzberger Kirche handeln, was übrigens
auch durch den Zusatz der Vita: tibi tunc prae-
positus fuit angedeutet wird. Beide Bauten
aber haben den graden Chorschlufs, und
es kann keine Frage sein, dafs ihn Benno als
Ausdruck einer bestimmten kirchlichen und
baulichen Richtung in Niedersachsen eingeführt
hat. Denn geraume Zeit schon, bevor das Bau-
programm der Kluniacenser von Hirsau aus
durch Abt Wilhelm (1069—1091) in Deutsch-
land Verbreitung fand — um von der. ver-
wandten, aber jüngeren Cistercienserbauregel zu
schweigen —, hatte Abt Poppo von Stablo in
der grofsartigen Stiftskirche zu Limburg a./H.
(1030 gegründet) den graden Chorschlufs zur
Anwendung gebracht, der bald darnach auch
in Andlau im Elsafs (1049 geweiht) und später
im Allerheiligenmünster zu Schaff hausen (geweiht
1064), im Münster zu Konstanz (zwischen 1052
und 1089) und in zahlreichen schweizer Kirchen11)
erscheint.
Aus Schwaben aber stammte Benno, in
Strafsburg und in Speier, dessen Dom auch als
Werk Poppos von Stablo gilt, war er auf der
Klosterschule gewesen, vom Süden her hatte
er sicher auch die Form der reinen Säulenba-
silika " mitgebracht, die er in Moritzberg ab-
weichend von der niedersächsischen Regel an-
wandte; so ist es denn keine Frage, dafs der
von ihm bevorzugte grade Chorschlufs densel-
ben Ursprung hat.12)
Nimmt man beide Umstände, die Strenge
Bischof Hezilos gegen das entartete Domkapitel
und Bennos kluniacensisch-schwäbisches Bau-
programm, zusammen, so verliert, glaube ich, die
10) MG SS XII 65, cap. 11.
n) F. X. Kraus »Kunst und Alterthümer in Elsafs-
Lothringen« I, 7 ff. — Derselbe »Kunstdenkmäler des
Grofsh. Baden« I, 103 ff. — Dehiou. Betzold »Kirch-
liehe Baukunst des Abendlandes« 1,209 ff. —R ahn »Ge-
schichte d. bildenden Künste in der Schweiz« 156,
182 ff.
la) Der grade Chorschlufs der Klosterkirche von
S. Ludgeri in Helmstedt und die der Kollegiat- und
Templerkirche in Supplingenburg — vgl. meine »Bau-
und Kunstdenkmäler des Herzogthums Braunschweig«
I, 18 ff., 276 ff. — erscheinen mir jetzt auch in etwas
anderem Licht.
1899.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.
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klar ersehen läfst,9) eine Reaktion gegen das
Auftreten seines Vorgängers Azelin. Während
bis auf diesen die alte „bäuerliche Einfalt" im
Kreise der Chorherren geherrscht hatte, „schlich
sich unter dessen Regierung eine anspruchs-
volle, höfische Lebensart ein, die, weichlicher
in der Kleidung, üppiger in der Kost, sorg-
fältiger in allen Beziehungen der Lebensein-
richtung, mehr Zuneigung, als Furcht wecken
wollte, und, nach Lockerung der Strenge der
Zucht, des Klosters klösterliche Schranken
durchbrach." Und diesem Auftreten im all-
gemeinen entsprach auch Azelins Baulust. Alt-
frieds Dom war am 23. März 1046 durch Brand
vernichtet worden. Anstatt nun, wie Hezilo
später that, an der alten Stelle mit Benutzung
der unversehrten Osttheile einen Neubau auf-
zuführen, verlegte Azelin diesen nach Westen
und errichtete ecclesie edificationem longe priori
capaciorem. Doch wurde der Bau in technischer
Hinsicht nicht sorgfältig genug ausgeführt, ge-
rieth ins Stocken und blieb unvollendet, aber
man liest unschwer aus den Worten derFundatio
heraus, dafs man im Kreise des Hezilo, dem
der Bericht entstammt, auch in diesem Bau eine
schwere Lockerung der Sitten durch Azelin er-
kannte und in wohlthuenden Gegensatz dazu
die Wirksamkeit Hezilos stellte, der sich streng
an das Gegebene und Ueberlieferte hielt, ja
dieses in der Form des graden Chorschlusses
seines Doms noch überbot und dafür auch das
Glück genofs, seinen bescheideneren Bau zu
Ende gebracht zu sehen.
Damit stimmt nun vortrefflich der Umstand
überein, dafs der grade Chorschlufs einem be-
stimmten Bausystem entspricht, das auf der
christlich-ethischen Grundlage einer möglichst
grofsen Einfachheit auch bei den Gottes-
häusern beruht. Hezilo hat drei grofse kirch-
liche Bauten in Hildesheim ausgeführt, den
Dom (1061 geweiht), die Kollegiatkirche auf
dem Moritzberg (vor 1068) und das Kreuzstift.
Von diesen hat er das letztere, dessen Kirche
den halbrunden Chorschlufs besitzt, ebenso erst
gegen Ende seines Lebens erbaut, wie die Apsis
des Domes, die an Stelle des ursprünglich
graden Schlusses trat, beides also zu einer Zeit
als sein berühmter Architekt, der Hildesheimer
Dompropst Benno, bereits den Bischofsstuhl in
Osnabrück bestiegen hatte (1068), somit für
/Vgl. auch Bertram «Hildesh. Bischöfe« S.41 ff.
Hildesheimer Bauten nicht mehr in Betracht
kam. Wenn also in Bennos Lebensbeschrei-
bung10) seine Hildesheimensis structura gerühmt
wird, so kam es sich nur um den Hezilodom
in seiner ursprünglichen Gestalt und um die
Moritzberger Kirche handeln, was übrigens
auch durch den Zusatz der Vita: tibi tunc prae-
positus fuit angedeutet wird. Beide Bauten
aber haben den graden Chorschlufs, und
es kann keine Frage sein, dafs ihn Benno als
Ausdruck einer bestimmten kirchlichen und
baulichen Richtung in Niedersachsen eingeführt
hat. Denn geraume Zeit schon, bevor das Bau-
programm der Kluniacenser von Hirsau aus
durch Abt Wilhelm (1069—1091) in Deutsch-
land Verbreitung fand — um von der. ver-
wandten, aber jüngeren Cistercienserbauregel zu
schweigen —, hatte Abt Poppo von Stablo in
der grofsartigen Stiftskirche zu Limburg a./H.
(1030 gegründet) den graden Chorschlufs zur
Anwendung gebracht, der bald darnach auch
in Andlau im Elsafs (1049 geweiht) und später
im Allerheiligenmünster zu Schaff hausen (geweiht
1064), im Münster zu Konstanz (zwischen 1052
und 1089) und in zahlreichen schweizer Kirchen11)
erscheint.
Aus Schwaben aber stammte Benno, in
Strafsburg und in Speier, dessen Dom auch als
Werk Poppos von Stablo gilt, war er auf der
Klosterschule gewesen, vom Süden her hatte
er sicher auch die Form der reinen Säulenba-
silika " mitgebracht, die er in Moritzberg ab-
weichend von der niedersächsischen Regel an-
wandte; so ist es denn keine Frage, dafs der
von ihm bevorzugte grade Chorschlufs densel-
ben Ursprung hat.12)
Nimmt man beide Umstände, die Strenge
Bischof Hezilos gegen das entartete Domkapitel
und Bennos kluniacensisch-schwäbisches Bau-
programm, zusammen, so verliert, glaube ich, die
10) MG SS XII 65, cap. 11.
n) F. X. Kraus »Kunst und Alterthümer in Elsafs-
Lothringen« I, 7 ff. — Derselbe »Kunstdenkmäler des
Grofsh. Baden« I, 103 ff. — Dehiou. Betzold »Kirch-
liehe Baukunst des Abendlandes« 1,209 ff. —R ahn »Ge-
schichte d. bildenden Künste in der Schweiz« 156,
182 ff.
la) Der grade Chorschlufs der Klosterkirche von
S. Ludgeri in Helmstedt und die der Kollegiat- und
Templerkirche in Supplingenburg — vgl. meine »Bau-
und Kunstdenkmäler des Herzogthums Braunschweig«
I, 18 ff., 276 ff. — erscheinen mir jetzt auch in etwas
anderem Licht.