149
1899.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST
Nr. 5.
150
Platz für die zu gründende Basilika bezeich-
nete, so offenbarte auch auf Hildesheims Dom-
hügel frischer Frühlingsreif dem betenden Alt-
frid den Kirchenplatz. Man ging in Hildes-
heim noch einen Schritt weiter. Während die
römische Legende — in ihrer officiellen For-
mulirung*) — den Papst Liberius den Kirchen-
grundrifs in den Augustschnee zeichnen läfst,
besorgte in Hildesheim der Frühlingsreif selbst
eine scharfe Zeichnung des ganzen Grundrisses
nach Richtung, Abstand und Dicke der Mauern.
— Man kann es bezweifeln, ob die Fundatio
hierbei ganz absichtslos handelte. Als um 1054
Azelins grösserer Dombauplan aufgegeben wurde
und trotz des gesteigerten Raumbedürfnisses
Altfrids kleiner Kirchenbau 1061 durch Hezilo
neu erstand, konnte es nicht an Stimmen fehlen,
die diesen Rückschritt oder Stillstand in der
baulichen Entwicklung des Domstifts mifs-
billigten. Wie eine willkommene Sanktionirung
des Entschlusses Hezilo's muthet es an, dafs
der Wille des Himmels den Platz und Grund-
rifs des Domes vorgezeichnet und auf immer
festgelegt haben sollte. Zwei Wunder ver-
einigten sich, um mifsbilligende Stimmen zum
Schweigen zu bringen. — Die Aufnahme beider
Wunderlegenden in die Fundatio ward er-
leichtert durch die bei Schriftstellern jener Zeit
vielfach erscheinende naive Freude an stilistischer
Ausschmückung einfacher Thatsachen und an
Verwerthung gewonnener Lesefrüchte. — Neben-
bei sei bemerkt, dafs auch auf die Gründung
des hildesheimschen Klosters Dorstadt (an der
Oker) die Schneefallsage sich übertragen hat.2)
Bischof Altfrid brachte — so erzählt uns
die Fundatio — seinen Mariendom in enge
Verbindung mit der dem Kaiser Ludwig
zugeschriebenen Marienkapelle. Diese Ver-
bindung ward hergestellt durch Altfrids Krypta,
die einen Anschlufs an die Marienkapelle er-
hielt (cryptam adjungebat). Auf die so von
Altfrid geschaffene Unterkirche legte sich der
hohe Chor des Domes (sanctuarium superim-
positum). Wie ist nun das Wort superimpositum
zu verstehen? etwa so, dafs Altfrids Krypta,
1) So im »Breviarium Romanum«, Officium vom
5. August. Leclio VI. lieber den Werth der Legende,
von welcher die authentischen Quellen und älteren
Aufzeichnungen nichts wissen, vgl. Grisar »Ge-
schichte Roms und der Päpste im Mittelalter« I,
S. 153.
2) »Cod. Bev.* 545, a. Fol. 71.
verlängert durch die Seitenwände der Marien-
kapelle mit dieser zu einer einheitlichen Sub-
struktion des Chores verschmolz, und daher
der hohe Chor über die ganze Unterkirche
sich erstreckte? oder erstreckte sich Altfrids
Chor nur über die von ihm der Kapelle vor-
gebaute Krypta, während die Kapelle unter
dem hohen Chore vortrat? — Letztere Annahme
ist wahrscheinlich, wenn Altfrids Unterkirche
in wesentlichem Unterschiede von der Hezilo-
schen Krypta, zwei verschiedene, wenn auch
irgendwie verbundene Räume darstellte. Erstere
Annahme liegt jedoch nahe, wenn Altfrids
Unterkirche so, wie die heutige Krypta eine
ganz einheitliche Gestalt besafs. — Hätte der
Altfridchor 872 sich so weit erstreckt, wie der
heutige Chor, so ist die Folgerung unabweisbar,
dafs Hezilo 1061 den Chor durch Abschneiden
der Apsis verkleinert habe. Wie wenig wahr-
scheinlich das ist, sei später dargelegt. Ver-
weilen wir vorerst beim Texte der Fundatio.
Es ist beachtenswerth, wie das Bauwerk,
das Altfrid westlich vor der Marienkapelle
errichtete, in unserer ältesten Aufzeichnung mit
einer gewissen Selbständigkeit den Namen
„Krypta" führt und bezeichnet wird als ein
eigener Raum mit eigenen Altären, und dafs
diese Altäre als nur in dieser Altfrid-Krypta
gelegen bezeichnet werden, während die alte
Kapelle ihren besonderen Altar behielt; das
Verhältnifs, .das Altfrid zwischen seiner „Krypta"
und der Kapelle herstellte, bestand darin, dafs
er beide Bauten in Verbindung mit einander
setzte (conjunxit, adjunxit). Doch die Fun-
datio redet noch markanter; Altfrids Krypta
stand so vor der Marienkapelle, dafs hier am
Osttheile des Domes eine doppelte untere
Kirche {crypta duplex) s) entstand, und zwar so,
dafs der Kapellenaltar4) (mit dem zu ihm ge-
hörigen Räume) als ein Anhängsel (adhaerens)
am Ostende der Krypta erschien. — So pflegt
man doch nicht zu reden von einer Krypta,
deren Theile, wie es heute bei der Domgruft
3) Dafs crypta duplex nur auf die Krypta des
Altfridschen Ostchores sich bezieht, nicht auch auf die
Westchorkrypta, sei hier nochmals erwähnt. Vgl.
»Domgruft« S. 22, Note 4, und oben Sp. 112, Note 5.
*) Die Betonung des Kapellen-Altares erklärt
sich durch die inzwischen demselben zugewachsene
Bedeutung als Wunderstätte. Das „altare adhaerebat"
wird identisch sein mit „sacellum adhaerebat". Denn
als Altarraum des Hauptaltars der Unterkirche erschien
die kleine Kapelle Ludwig des Frommen.
1899.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST
Nr. 5.
150
Platz für die zu gründende Basilika bezeich-
nete, so offenbarte auch auf Hildesheims Dom-
hügel frischer Frühlingsreif dem betenden Alt-
frid den Kirchenplatz. Man ging in Hildes-
heim noch einen Schritt weiter. Während die
römische Legende — in ihrer officiellen For-
mulirung*) — den Papst Liberius den Kirchen-
grundrifs in den Augustschnee zeichnen läfst,
besorgte in Hildesheim der Frühlingsreif selbst
eine scharfe Zeichnung des ganzen Grundrisses
nach Richtung, Abstand und Dicke der Mauern.
— Man kann es bezweifeln, ob die Fundatio
hierbei ganz absichtslos handelte. Als um 1054
Azelins grösserer Dombauplan aufgegeben wurde
und trotz des gesteigerten Raumbedürfnisses
Altfrids kleiner Kirchenbau 1061 durch Hezilo
neu erstand, konnte es nicht an Stimmen fehlen,
die diesen Rückschritt oder Stillstand in der
baulichen Entwicklung des Domstifts mifs-
billigten. Wie eine willkommene Sanktionirung
des Entschlusses Hezilo's muthet es an, dafs
der Wille des Himmels den Platz und Grund-
rifs des Domes vorgezeichnet und auf immer
festgelegt haben sollte. Zwei Wunder ver-
einigten sich, um mifsbilligende Stimmen zum
Schweigen zu bringen. — Die Aufnahme beider
Wunderlegenden in die Fundatio ward er-
leichtert durch die bei Schriftstellern jener Zeit
vielfach erscheinende naive Freude an stilistischer
Ausschmückung einfacher Thatsachen und an
Verwerthung gewonnener Lesefrüchte. — Neben-
bei sei bemerkt, dafs auch auf die Gründung
des hildesheimschen Klosters Dorstadt (an der
Oker) die Schneefallsage sich übertragen hat.2)
Bischof Altfrid brachte — so erzählt uns
die Fundatio — seinen Mariendom in enge
Verbindung mit der dem Kaiser Ludwig
zugeschriebenen Marienkapelle. Diese Ver-
bindung ward hergestellt durch Altfrids Krypta,
die einen Anschlufs an die Marienkapelle er-
hielt (cryptam adjungebat). Auf die so von
Altfrid geschaffene Unterkirche legte sich der
hohe Chor des Domes (sanctuarium superim-
positum). Wie ist nun das Wort superimpositum
zu verstehen? etwa so, dafs Altfrids Krypta,
1) So im »Breviarium Romanum«, Officium vom
5. August. Leclio VI. lieber den Werth der Legende,
von welcher die authentischen Quellen und älteren
Aufzeichnungen nichts wissen, vgl. Grisar »Ge-
schichte Roms und der Päpste im Mittelalter« I,
S. 153.
2) »Cod. Bev.* 545, a. Fol. 71.
verlängert durch die Seitenwände der Marien-
kapelle mit dieser zu einer einheitlichen Sub-
struktion des Chores verschmolz, und daher
der hohe Chor über die ganze Unterkirche
sich erstreckte? oder erstreckte sich Altfrids
Chor nur über die von ihm der Kapelle vor-
gebaute Krypta, während die Kapelle unter
dem hohen Chore vortrat? — Letztere Annahme
ist wahrscheinlich, wenn Altfrids Unterkirche
in wesentlichem Unterschiede von der Hezilo-
schen Krypta, zwei verschiedene, wenn auch
irgendwie verbundene Räume darstellte. Erstere
Annahme liegt jedoch nahe, wenn Altfrids
Unterkirche so, wie die heutige Krypta eine
ganz einheitliche Gestalt besafs. — Hätte der
Altfridchor 872 sich so weit erstreckt, wie der
heutige Chor, so ist die Folgerung unabweisbar,
dafs Hezilo 1061 den Chor durch Abschneiden
der Apsis verkleinert habe. Wie wenig wahr-
scheinlich das ist, sei später dargelegt. Ver-
weilen wir vorerst beim Texte der Fundatio.
Es ist beachtenswerth, wie das Bauwerk,
das Altfrid westlich vor der Marienkapelle
errichtete, in unserer ältesten Aufzeichnung mit
einer gewissen Selbständigkeit den Namen
„Krypta" führt und bezeichnet wird als ein
eigener Raum mit eigenen Altären, und dafs
diese Altäre als nur in dieser Altfrid-Krypta
gelegen bezeichnet werden, während die alte
Kapelle ihren besonderen Altar behielt; das
Verhältnifs, .das Altfrid zwischen seiner „Krypta"
und der Kapelle herstellte, bestand darin, dafs
er beide Bauten in Verbindung mit einander
setzte (conjunxit, adjunxit). Doch die Fun-
datio redet noch markanter; Altfrids Krypta
stand so vor der Marienkapelle, dafs hier am
Osttheile des Domes eine doppelte untere
Kirche {crypta duplex) s) entstand, und zwar so,
dafs der Kapellenaltar4) (mit dem zu ihm ge-
hörigen Räume) als ein Anhängsel (adhaerens)
am Ostende der Krypta erschien. — So pflegt
man doch nicht zu reden von einer Krypta,
deren Theile, wie es heute bei der Domgruft
3) Dafs crypta duplex nur auf die Krypta des
Altfridschen Ostchores sich bezieht, nicht auch auf die
Westchorkrypta, sei hier nochmals erwähnt. Vgl.
»Domgruft« S. 22, Note 4, und oben Sp. 112, Note 5.
*) Die Betonung des Kapellen-Altares erklärt
sich durch die inzwischen demselben zugewachsene
Bedeutung als Wunderstätte. Das „altare adhaerebat"
wird identisch sein mit „sacellum adhaerebat". Denn
als Altarraum des Hauptaltars der Unterkirche erschien
die kleine Kapelle Ludwig des Frommen.