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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 23.1912

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Rauecker, Bruno: Die kunstgewerbliche Erziehung in London und ihr Einfluss auf die ökonomische Struktur des Londoner Kunstgewerbes: ein wirtschaftsästhetisches Problem
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https://doi.org/10.11588/diglit.4421#0203

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DIE KUNSTGEWERBLICHE ERZIEHUNG IN LONDON
UND IHR EINFLUSS AUF DIE ÖKONOMISCHE STRUKTUR
DES LONDONER KUNSTGEWERBES
EIN WIRTSCHAFTSÄSTHETISCHES PROBLEM
Von Dr. Bruno Rauecker

ES gibt in England — Schottland und Irland nicht
eingerechnet — 862 kunstgewerbliche Klassen, die
entweder selbständige Verwaltungsgebilde sind, zu
einer Kunstschule zusanunengeschlossen oder auch
anderen Erziehungsinstitutionen angegliedert sind. London
allein weist 139 Kunstklassen auf, die teils an die Poly-
techniken und deren Zweiganstalten angeschlossen sind
und dort eine selbständige kunstgewerbliche Abteilung
bilden, teils anderen technischen oder gewerblichen Zwecken
dienenden Schulen und Klassen in regelloser, bunter
Mischung zugehören. Unter einem Dache, über dem die
pädagogische Sonne lächelt, kann man dem einen, der das
Mauern lernt, begegnen neben einem solchen, der über
ihn hinweg sehen zu müssen glaubt, weil er Heliogravüre
betreibt. Schneider, Schuster, Aufpolsterer, Kunstschreiner
Stenograph, Buchbinder usw. lernen in ein und derselben
Schule. □
□ Verwaltungstechnische Einzelheiten, — so anregend sie
organisatorisch und namentlich soziologisch sein mögen —,
sind hier nicht abzuhandeln. Für die Zwecksetzung dieser
Zeilen ist es ausreichend, die wichtigsten Faktoren der
Londoner kunstgewerblichen Erziehung kennen zu lernen,
die sich zu Kristallisationspunkten typisch verdichtet haben.
Es sind dies das Royal College of Art, die Königl. Kunst-
schule in South Kensing/on und die Arts and Crafts Schools,
die Kunstgewerbeschulen des London County Council, der
Stadt London. ■ □
□ Vom Royal College möchte ich zuerst erzählen, wenn ich
die Frage beantworte: Inwieweit tragen diese (eben) ge-
nannten Gewerbeschulen den wirtschaftlichen Anforderungen
unserer Zeit Rechnung? Oder mit anderen Worten: Sind
die A bsolventen dieser Schulen für die kunstgewerbliche Praxis
brauchbar? °
□ Diese Frage soll durch die einzelnen Zwecke verfolgt
werden, denen das Royal College seit seiner Gründung
gedient hat. (Das Material zu den folgenden Ausführungen
ist aus englischen Blaubüchern zusammengestellt und durch
eigene Anschauung ergänzt.) □
n Diese Zwecke der Schule seit ihrem Entstehen sind
dreifache: a) Lehrerausbildung für die Landschulen und
Londoner Fachschulen; b) Handwerkererziehung; c) Zeich-
nerausbildung für Manufakturen und Fabriken. □
□ Die Lehrerausbildung hat den Bedürfnissen der lokalen
Landschulen entsprochen, so lange diese das Royal College
als ihre Lehrerbildungsanstalt benutzten, was bis in die
jüngste Zeit hinein geschah. Allmählich jedoch entfällt
diese heranbildende Tätigkeit des College je mehr, je eher
die Landschulen zur Selbständigkeit heranwachsen und
selbst ihre Lehrerausbildung in die Hand nehmen, was
namentlich mit dem Anwachsen der Spezialklassen, die
eine praktische Vorbildung verlangen, zur Lebensnotwendig-
keit der einzelnen Spezialschulen wird: das Royal College
fängt an, als Lehrerbildungsanstalt abzumagern. n
□ Bliebe noch immer als Lehrzweck die Handwerker-
erziehung und Zeichnerausbildung für Manufakturen und Fa-
briken dem Royal College zugewiesen. □
o Wie erfüllt es hierin seine Funktion? □
□ In Punkto »Handwerkererziehung« ist abzuscheiden: Glas-
malerei, Stickerei und — bis zu einem gewissen Grade —
Töpferei von den übrigen Kunstgewerben. Diese drei haben
sich als Kunst/(ß«rfwerke erhalten, während alle anderen

Kunstgewerbe den Weg der industriellen Herstellung be-
schritten haben. Das gilt für alle zivilisierten Länder gleich-
mäßig. — Jedoch auch für die ersten genannten drei Kunst-
gewerbe ist die Tendenz vorhanden, aus der Poduktionsform
des Kleinbetriebs in die des arbeitsteiligen Großbetriebs
der Manufaktur überzuschwenken. Aber immerhin: Auch
in der Manufaktur bleibt die Handarbeit — um die es sich
hier dreht — erhalten. — Diesen drei handwerklichen Ge-
werben nun hat das College mit seiner Zeichnererziehung
willkommenen Vorspann geleistet und die wenigen Zeichner,
die in das Gewerbe eintraten, nachdem sie die Schule
hinter sich hatten (1900—1910 z. B. im ganzen nur 39),
verschwanden in solchen Manufakturen. □
□ Wie steht es aber mit dem Übergang der Zeichner aus
dem Royal College of Art in die Industrie? □
□ Bevor ich diese wichtigste-Frage beantworte, möchte
ich, um Wiederholungen zu vermeiden, darauf hinweisen,
daß ich mit dem Aufzeigen der Ursachenreihen des Miß-
lingens des College in seiner Ausbildung für die Kunst-
industrie zugleich die Klagen jener Industrie berühren
werde, die sie über sämtliche Kunstgewerbeschulen Londons
wie auch des übrigen England führt; daß ich somit bei
der folgenden Schilderung der Kunstgewerbeschulen der
Stadt London auf diese Ausführungen Bezug nehmen
werde. o
c Also nochmals die Frage: Wie steht es mit dem Über-
gang der Zeichner aus dem Royal College in die Industrie? □
□ Die englischen Fabriken sind allmählich, ganz langsam
freilich und kaum bemerkbar, in die Geschmackskonkurrenz
eingetreten. Sie fangen an zeichnerische Kräfte mit künst-
lerischer oder kunstgewerblicher Vorbildung zu benötigen. □
□ Woher beziehen sie diese nun? □
□ Einmal: Aus den Reihen von Architekten und Malern,
die sich dem Kunstgewerbe zugewandt haben. Dann:
Aus der Industrie selbst als Selfmademen. Zum dritten —
und dies ist der wichtigste Punkt — aus fremden Ländern,
nicht aber von irgend einer Kunstgewerbeschule. Besonders
in den Bezirken Manchester, Bradford, den Hauptzentren
der Textilindustrie, beziehen die Fabrikanten ihre Zeichner
aus Frankreich. Die Kattundrucker-Vereinigung, die jährlich
etwa 37000 £ (740000 Mk.) für Zeichnungen ausgibt, unter-
hält ständig 16 Zeichner in Paris, 38, zumeist französische,
in England. Wobei sehr zu beachten ist: Zeichnungen,
die in England gefertigt sind, versorgen den indischen
Markt; die PariserZeichnungen den englischen, europäischen
und amerikanischen. — Ein weiteres Beispiel: die Tapeten-
manufakturen-Vereinigung zieht deutsche Zeichnungen vor
wegen ihrer technischen Ausführbarkeit, französische wegen
ihrer künstlerischen Vollendung. □
□ Diese Tatsachen sprechen Bände. Sie brauchen keinen
Kommentar. □
□ Was aber noch aufgeführt werden soll, ist die ruhige
Antwort der Industriellen auf eine verzweifelte Anmahnung
hin, doch die in England erzogenen Zeichner zu berück-
sichtigen: »Wir wissen, daß anstatt der Vorbereitung zu
werktätiger Ausführung . . . viele von den Zeichnungen
in der Erfindung unpraktisch bleiben und als Zeichnungen
abstrakt genannt werden müssen, anstatt für klare technische
Prozesse in Betracht zu kommen.« o
□ Damit dürfte der Fallit der kunstgewerblichen Erziehung
in London (und auch im übrigen England, worauf ich hier
 
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