Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Antiquitäten-Zeitung — 6.1898

DOI Heft:
Nr. 15 (13. April)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.61938#0117
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Offizielles Organ des Vereins zur Erbauung eines „Deutschen Reichsmuseums" in Stuttgart.


Herausgegeben unter Mitwirkung bewährter Fachleute von Josef Laut in Stuttgart, Reinsburgstr. 44, Verlagsbuchhandlung und Buchdruckerei.

Nr. 15.

Abonnement:
Deutschland u. Oesterreich 2.S0
vierteljährlich, Ausland s.—

Stuttgart, 13. April 18S8.
lErschetnt wöchentlich.)

Anzeigen:
Die Nonpareille-«»!« oder deren
Raum so Psg., Auktionen so Pfg.

6. Jahrgang.

H Die Wissenschaften find Gemeingut, weil da» Denken k.
,« Gemeingut ist, und da» Denken au» der Quell« de» Wissen» 8
H schöpft. (W. Wundt.) E
Der Dom in Chartres.
Bon Rektor Sauer.
<Mtt Abbildung.)

Dieses Bauwerk gehört unstreitig zu den schönsten
Denkmälern der französischen Kunst. Es ist die älteste
und eine der schönsten Kirchen Frankreichs, denn es
gehört mit den Domen von Paris (Notre-Dame), von
Reims, von Amiens, von Bourges und von Beauvais
der Glanzperiode des gothischen Stiles an, wurde
aber erst im Verlauf von 70 Jahren ausgebaut (1190
bis 1260.) Die Fundamente der Kirche ruhen auf dem
Mauerwerk alter Römerbefestigungen, denn die Stadt
-Chartres war der Hauptort der Karnuten und hieß
bei den Römern Aulricum. Lange wenig beachtet und
gegenüber ihren bekannteren Schwestern von Amiens,
Reims und Paris stiefmütterlich behandelt, ist ihr in
neuerer Zeit, namentlich seit dem Hinweis des fran-
zösischen Kunsthistorikers Viollet-le Duc die ihr ge-
bührende Würdigung zu Theil geworden. Wer vollends
das Glück hat, von einem Geistlichen der Kirche, dem
Abbs Mätais, der selbst Verfasser einer kleinen Mono-
.graphie über die Apsis der Kirche ist, in liebenswür-
digster und aufopferndster Weise geführt zu werden,
dem mußte so recht das Verständniß für all' die Schön-
heiten des Baudenkmals aufgehen.
Unser Besuch läßt sich sehr leicht in 5 Abschnitte
zerlegen. Wir besichtigten zuerst das Gesammtinnere,
dann die Sculpturen des Chores und der Hochaltar-
nische und einzelne Seitenkapellen, drittens den einen
.Thurm, den äußeren Umgang und den Raum unter
dem Dachstuhl, viertens das Aeußere und endlich zu-
letzt die Krypta der Kirche.
Die Kathedrale ist der Jungfrau Maria geweiht,
daher ist die Hintere Wand der Altarnische mit präch-
tigen Reliefdarstellungen des Lebens und des Todes
der Jungfrau bis zu ihrer Himmelfahrt, ausgeführt
nach den Evangelien, den apokryphen Evangelien und
nach der Tradition, ausgeschmückt. Man sieht ganz
deutlich, daß dec den Todt darstellende Theil viel älter
ist, als der ihr Leben zeigende. Nur der neuere Theil
ist von Boudie (1612). An den Reliefs wurde in der
Zett der Revolution viel verdorben; Köpfe und Glied-
maßen abgeschlagen, ja fast wäre der blinden Zer-
störungswuth der ganze herrliche Bau zum Opfer
gefallen, wie wir später noch sehen werden. Zum Er-
sätze für den verübten Vandalismus hat man in jenen
Tagen das Innere der Altarnische mit einem Altar-
bild und modernen Reliefs geschmückt, die freilich beide
gar wenig hereinpassen, denn die Reliefs tragen einen
gar weltlichen Charakter und das Altarbild ist die
Döesse Raison, wird aber heute von der Gemeinde als
Maria angesehen und verehrt.

Die Glasmalereien zeigen die in Frankreich so
häufigen lebhaften Farben, hauptsächlich blau und roth,
während bei unserer deutschen Glasmalerei mehr das
Gelbe vorherrscht. Diese hier zeigen uns in ihrer
Kunstlosigkeit der Figuren, aber leuchtenden Pracht noch
eine Art von Uebergang vom byzantinischen zum ro-
manischen Geschmack, was auf ihr hohes Alter schließen
läßt. Die Hauptrosette über dem Hauptportal ist ganz
entschieden byzantinisch. Außer dem oben erwähnten
„falschen" Marienbild sind noch verschiedene sonstige
Statuen der Jungfrau vorhanden; ganz besondere Ver-
ehrung scheint ein uraltes, wunderthätiges, reich in ge-
stickte Seidengewänder gekleidetes Holzbild zu genießen.
Es wird bei Prozessionen herumgetragen, steht aber
für gewöhnlich in einer kleinen Seitenkapelle rechts vor
der Apsis und wird durch Aufstecken brennender Kerzen


Der Dom in Chartres.
und Küssen des hölzernen Pedals, das denn auch deut-
liche Spuren davon trägt, verehrt. Eine vor der Re-
volution bestehende Hochaltarempore (jubs), die den
Chor von der Vierung abschioß und links und rechts
durch Treppen zugänglich war, ist nicht mehr vorhan-
den. Sie ist sonst in französischen Kirchen häufig; ein
sehr schönes jubä befindet sich z. B. in der Kirche St.
Etienne du Mont in Paris.
Auf 200 Stufen steigen wir zu der 1. Gallerie
des einen Thurmes zu dessen halber Höhe empor. Die
zwei Thürme sind ungleich, der größere ist ISO Meter
hoch. Die Kirche hat eine Länge von 131 Meter und
eine Breite von fast 16Vr Meter. (Der sehr große
Augsburger Dom hat bloß eine Länge von 70 Meter
und eine Breite von M/z Meter. Der Straßburger
Münster freilich ist 110 Meter lang und 41 Meter
breit, der Kölner Dom bedeckt eine Fläche von 6166 gm.)

Vom Thurme aus gehen wir durch den äußeren Um-
gang hinein unter das Dach, das wir auf den in
Kreuzform führenden Holzdämmen durchschreiten. Seit
dem letzten Brande 1836 wird das Dach durch eisernes
Gebälk getragen und die Kreuzgewölbe der Halle sind
durch einen Cementüberguß gegen Feuer von oben voll-
ständig verwahrt. Von der Außengallerie, auf die wir
wieder hinaustreten, hat man eine treffliche Rundsicht
auf Chartres und die Ebene der Beauce, die im letzten
Kriege (im Winterfeldzuge an der Loire) eine große
Rolle gespielt hat. Wir steigen nun hinab in den Hof
des bischöflichen Palastes, dessen Dach auf unserer Ab-
bildung sichtbar ist. Von dort aus präsentirt sich der
prachtvolle gothische Bau mit seinem reichen Außenschmuck
am schönsten. An einigen tiefliegenden Fenstern sehen
wir noch Spuren von romanischen Formen, worin wir
nicht die Ueberreste eines älteren Baues, sondern die
ersten Anfänge dieses Baues zu erblicken haben. Frank-
reich ist ja die Wiege der Gothik und die Kathedrale
von Chartres ist, wie wir schon an den Glasmalereien
der Fenster gesehen Haven, eine der Bauten, an denen
wir ihre Entwicklung aus der Romantik heraus studiren
können. Der Eindruck ist ein ganz überwältigender;
leider haben der Zahn der Zeit, besonders auf der
Wetterseite, und die Revolution auch hier außen vieles
angenagt und zerstört. Manche von den zahlreichen
Nischen- und Säulenfiguren sind um Haupt oder Glie-
der gekommen. War ja doch der ganze Dom auf Be-
schluß des Stadtraths bereits an einen Unternehmer
auf den Abbruch verkauft worden, „um einen freien
Platz zu gewinnen" und dieser hatte schon einige der
Statuen wegreißen und in den Stadtgraben werfen
lassen. Da trat der städtische Baumeister in der Mairie
auf mit der Interpellation, wo der Schutt denn eigent-
lich hingeführt werde, damit auch wirklich ein „freier"
Platz entstünde. Wer den Dom abbreche, verpflichte
sich auch, sämtlichen Schutt sofort wegführen zu lassen.
In den Stadtgraben könne doch nicht alles geworfen
werden! Daran hatte man nicht gedacht, den Schutt
verschwinden zu lassen ; das war eine Unmöglichkeit, das
mußte auch der Unternehmer zugeben. Und so blieb
die Kathedrale stehen und mit ihr manches köstliche
Kleinod französischer mittelalterlicher Kunst. Die Por-
tale sind nämlich ungemein reich ornamentirt; jedes
Plätzlein, selbst die Kapitäle und die Säulenfüße sind
ausgenützt und auch sonst überall sind Blattornamente
und Figuren bis zu Vg Meter Höhe in Nischen ange-
bracht, der vielen Wasserspeier gar nicht zu gedenken.
Am Querschiffe sind außen als Schmuck der Thierkreis
und allerlei mannigfaltige Gegenstände des Lebens-
und Naturkreises dargestellt. Unter den Nischenstatuen
erregt ganz besonders ein sehr schönes Bilo. der Sage
nach die einst zum Tode verurtheilte Toch'er eines
Gouverneurs von Chartres, unsere Aufmerksamkeit und
Bewunderung. Sie ist noch prächtig erhalten. „Ms
s'sst trss bisn ooussrvSs „pour sou ÜKs!" bemerkt ein
witziger Bürger von Chartres, der daoei steht. Alle
die Figuren aber sind von einer bewunderungswürdigen
Lebendigkeit der Ausführung, die Gewandung ist ein-
fach aber ansprechend, die Modellierung, die noch im
 
Annotationen