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Heidelberger Familienblätter — 1866

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No. 64 - No. 76 (1. Juni - 29. Juni)
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Hemcbenar Zamilienblätter

M 76. e den 29. A ö

Cin: Gotbeitranen. —
— von J. O. H. Temm

1. Die Lamilit des Angeklagten.

Eine Frau im Anfange der vierziger Jahre trat in das Zinmer Ihr
Ge ſicht war ſorgenvoll, es verrieih eine innere Unruhe.
„ Sie war durch eine Glasthüre eingetreten, die aus einem Schlafgemach
führen mußte, in dem noch Jemand ſchlief. Die Frau hatte ſie langſam
und leiſer geöffnet, leiſe wieder zugemacht. Während des Zumachens blickte
e zurück, als' wenn ſie ſehen woͤllte, ob ſie Niemanden⸗ aufgemweckt habe.
Cs war Morgens ſieben Uhr.
ö Das Zimmer, in das ſie trat, war eine freundliche Wohnſtube, bür-
gerlich, aber mit Geſchmack, Bequemlichkeit Uund Wohlhabenheit eingerichtet.
Es war vollſtändig gereinigt, geputzt und in Ordnung, trotz des frühen
—Morgens, trotzdem daß heute ein Tag war, an dem ſie Alle im Hauſe
des Putzens und Ordnens wohl hätten vergeſſen können; am meiſten die
Hausfrau ſelbſt. Sie warf dennoch einen prüfenden Blick umher; wohl
nur aus Gewohnheit, und nur, indem ſie durch das Zimmer hindurchſchritt-
Das Haus lag an einem freien Platze der Stadt, auf den die beiden
Fen ſter des Zimmers führten. ö
Die Frau trat an eines der Fenſter; ſie ſah hindurch auf den Platz,
uber ihn hinweg auf die Straße, die an ſeiner anderen te ſich vor-
überzog.
Eine Menge Menſchen gingen in der⸗ Straße⸗ ſchon an dem gfrühen
Morgen und alle in einer Richtung; ſie kamen vom Thore her und ſchritten
der Mitte der Stadt zu. Ein ungewöhyliches Ereigniß mußte ſie ſo früͤh
demſelben Ziele zuführen.
Nach dem Hauſe, in welchem die Frau am Fenſter ſtand, richteten
Manche im Vorbeigehen den Blick. Andere gingen vorbei ohne hinzuſehen;
aber wenn ſie mit einem Begleiter ein paar Worte gewechſ ſelt hatten, ſahen ö
ſie ſich noch neugierig um.
Die Frau trat von dem Fenſter zurück.
Niemand von den Menſchen draußen hatte ſie beſchenz bane ſich
hinter den Vorhängen des Fenfters verborgen gehalten.
Sie war mit einem ſchweren Seufzer zurückgetreten.
Ueber dem Sopha des Zimmers hing ein Porträt in⸗ bebensgröhe
Es war das Bild eines Mannes, der gleichfalls in dem Anfange der vier-
ziger Jahre geſtanden hatte, als er ſich hatte malen laſſen. Das Geſicht
trug ſchöne männliche Züuͤge, mit einem Ausdrucke dewußien, klaren Stolzes
und feſter Kraft. ö
Die Frau trat vor das Bild und ſchaute es mit dem ſorgewoollen
„Geſicht ſtill und ſchmerzlich an. So ſtand ſie lange davor. Und je länger
ſie ſtand, deſto mehr verſchwanden der Schmerz und die Sorge aus ihrem
Geſichte, als wenn der klare Stolz und die ruhige, ſichere Kraft des Mannes
ihr zugerufen hätten: Sorge du nicht, angſtige dir nicht d das D ab; es
wird Alles gut werden. ö
 
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