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Heidelberger Familienblätter — 1866

DOI Kapitel:
No. 143 - No. 154 (2. Dezember - 30. Dezember)
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Bheprberger Zanilienblätter.

V 149. —* Sountag, vn 16. Dezember ᷓ* 1866.

Prozeß Lamirande in Poitiers. —

I.

Der Name Lamirande wird in den Annalen der Juſtiz eine traurige
Berühmtheit behalten, wie er denn bereits ſeit einigen Monaten in beiden
Hemiſphären widergehallt iſt: nicht wegen der Großartigkeit der verübten
Verbrechen, denn ihr Motiv iſt gemeine Habgier, und die Höhe der Sum-
men, um die es ſich handelt, etwa 700,000 Franes, vermag derſelben kein
Relief zu geben; allein die Rechtsfragen, die ſich an dieſen Fall knüpfen,
ſind ſo wichtig und bedeutend, daß der Kern der Sache faſt von der Form
verdrängt wird und die internationalen Fragen, welche die Präliminarien
bilden, vielmehr in den Vordergrund treten und leicht Anlaß zu diplomati-
ſchen Verwickebungen geben können.
Es genügt vorerſt darauf hinzudeuten, daß Lamirande ſeit 1828
Caſſierer der Succurſale der Bank von 5. J. „ zu Poitiers und aus
angeſehener Familie ſtammend, im März d. J. mit Hinterlaſſung eines
ungeheuren Defizits durchging, ſich erſt nach England, dann nach Kanada
flüchtete, nach langen diplomatiſchen Verhandlungen nach England zurück-
transportirt und von dort auf Grund des Auslieferungsvertrags an Frank-
reich ausgeliefert wurde: ob mit Recht oder Unrecht, das wird die Ver-
handlung ergeben. Am 4. Nov. wurde das Schwurgericht in Poitiers über
ihn eröffnet; der Zudrang war ungeheuer, ſchon weil der allgegenwäͤrtige
Lachaud die Vertheidigung übernommen hatte.

Die Anklage geht auf Diebſtahl und Unterſchlagung von 700, 000 r Fr.
aus der laufenden Caſſe der Bankfiliale, ſowie auf Schriftfälſchung zur.
Verdeckung dieſer Veruntreuungen. Der Anklage⸗Akt ergibt folgende nähere
Umſtände. Am 12. März ſetzte der Bankdirector Bailly den Caſſirer in
Kenntniß, daß ſofort eine Million in Gold an die Bank in Angouléme
zu expediren ſei, während am folgenden Tag eine halbe Million in Silber
ebendahin abgehen ſolle. Lamirande traf die nöthigen Vorbahnungen zur
Abſendung der Million; am Abend verließ er ſeinen Poſten, beſtieg die
Eiſenbahn und überſchritt die Grenze. Er hinterließ, als Vorwand, er
müſſe eilfertig ſeinen erkrankten Neffen beſuchen und ſchickte dem Chef der
Rechnungskammer zugleich einen Theil ſeiner Schlüſſel, während er den
andern mitnahm. Dieſe Abreiſe erregte zunächſt keinen Verdacht. Als
aber am nächſten Tag die halbe Million in Silber auf die Meſſagerie
abging und dort gewogen wurde, ergab ſich ein Manquo von 300 Kilo-
gramm oder etwa 60,000 Fr. Man öffnete die Säcke à 1000 Fr. und
konſtatirte in einer großen. Anzahl ein Defizit von je 200 Fr. Die ſofor-
tige Unterſuchung der Bankkeller ergab das nämliche Defizit bei einer be-
deutenden Anzahl Silberſäcke. Außerdem fand ſich in mehreren Goldſäcken
à 20,000 Fr. nur Silber in 2 Fr.⸗Stücken vor, mit doppeltem Papier
umwickelt, wodurch das Gewicht dem 20 Fr.⸗Stück faſt völlig gleich gemacht
war. Da Lamirande, auf welchen jetzt natürlich der Berder fiel, den
 
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