Heidelberger Tamilienblätter.
V 116. Sonntag, den 30. Septenber 13066.
Eine Novelle, von A. Mav.
—7 ‚ — — (dortſezung.) — ö
Wir würden uns jedoch einer Unwahrheit ſchuldig machen, wenn wir
leugnen wollten, daß ſich nicht auch Otto von lebhafter Begierde gedrun-
gen fühlte, zu wiſſen, wen er eigentlich vor ſich habe. Seine Begierde
wurde namentlich durch den Widerſpruch angeregt, welcher ihm zwiſchen
Mutter und Tochter auffiel. Während das Weſen der Tochter eine volle
Harmonie zwiſchen innen und außen, ebenſoviel Bildung des Geiſtes und
Gemüthes als Anſtand und Feinheit des Benehmens zeigte, bewies die
Mutter zwar auch viel Schliff in ihren Manieren, es entſchlüpften ihr
jedoch manchmal Aeußerungen, welche keine gerade ſehr entwickelte Weib-
lichkeit verriethen, und ſtets bei der Tochter eine fichtbare Verlegenheit her-
vorriefen. Aber auch das Weſen der Tochter ſelbſt hatte etwas Eigen-
thümliches. Es lag in der ganzen Art und Weiſe, wie ſie ſich gab,, bei
allem Anſtand doch eine gewiſſe warme Lebendigkeit und etwas Freies,
Selbſtändiges, was in Otto's Augen nicht zu ihrem Nachtheil ſcharf ab-
ſtach gegen das Hervorkehren ſcheuer Mädcheuhaftigkeit und vorſichtiger
Zurückhaltung, das er ſo häufig an Töchternwon ſogenannter guter Er-
ztehung. gefunden hatte und um deſſenwillen ihm ein anhaltendes Geſpräch
mit ihnen meiſtens flach und nichtsſagend vorgekommen waar.
Otto hätte deshalb gleichfalls die Stellung kennen lernen mögen, welche —
ſeine beiden Begleiterinnen in der Geſellſchaft einnahmen. An dem Ver-
ſuche, ſie im Geſpräche darüber auszuholen, hinderte ihn das ihm eigene,
faſt pedantiſche Feſthalten an Grundſätzen. Er hatte es ſtets für eine der
erſten Regeln des Anſtandes gehalten, im Geſpräche mit Fremden nicht die
geringſte Neugier über ihre Perſönlichkeit zu verrathen, und allen Schein
zu vermeiden, als wünſche man über ihre Verhältniſſe und Angelegenheiten
Aufſchluß. An dieſer Regel hielt er auch heute feſt, obwohl er mehr als
je den Drang fühlte, ſie außer⸗Acht zu laͤſſen. Deshalb ſprang die Un-
terhaltung von den Mittheilungen. Otto's über ſich bald wieder auf allge-
meinere Themas über, zu welchen jene Berührungspunkte gegeben hatten
und von welchen das über Kunſt und⸗Literatur von-unſeren jungen Rei-
ſenden beiderſeits mit ſichtbarer Vorliebe behandelt wurden
Otto war von den Kenntniſſen und gefunden Urtheilen überraſcht,
welche ſeine Begleiterin hierbei beſonders über die Werke unſerer großen
Dichter entfaltete. So ertönte der langangehaltene Pfiff der Locomotive,
welcher den Reiſenden den Eiubauf des Zuges in den großen Bahnhof
ihres Reiſezieles verkündete, eher, als ſie erwartet hatteeen
lud ihn ein, ihnen einmal einen Beſuch zu ſchenken, und beſchrieb ihm ihre
Wohnung. Schon freute er ſich, daß der Lichtſchein der Coupeelaterne,
welcher auf die dargereichte Karte fiel, ihm noch im letzten Augenblick Ge-
legenheit zur Befriedigung' feiner Neugier geben ſollte. Dieſe war eben
Man rüſtete ſich zum Aufbruch; die ältere Dame gab ihm ihre Karte,
V 116. Sonntag, den 30. Septenber 13066.
Eine Novelle, von A. Mav.
—7 ‚ — — (dortſezung.) — ö
Wir würden uns jedoch einer Unwahrheit ſchuldig machen, wenn wir
leugnen wollten, daß ſich nicht auch Otto von lebhafter Begierde gedrun-
gen fühlte, zu wiſſen, wen er eigentlich vor ſich habe. Seine Begierde
wurde namentlich durch den Widerſpruch angeregt, welcher ihm zwiſchen
Mutter und Tochter auffiel. Während das Weſen der Tochter eine volle
Harmonie zwiſchen innen und außen, ebenſoviel Bildung des Geiſtes und
Gemüthes als Anſtand und Feinheit des Benehmens zeigte, bewies die
Mutter zwar auch viel Schliff in ihren Manieren, es entſchlüpften ihr
jedoch manchmal Aeußerungen, welche keine gerade ſehr entwickelte Weib-
lichkeit verriethen, und ſtets bei der Tochter eine fichtbare Verlegenheit her-
vorriefen. Aber auch das Weſen der Tochter ſelbſt hatte etwas Eigen-
thümliches. Es lag in der ganzen Art und Weiſe, wie ſie ſich gab,, bei
allem Anſtand doch eine gewiſſe warme Lebendigkeit und etwas Freies,
Selbſtändiges, was in Otto's Augen nicht zu ihrem Nachtheil ſcharf ab-
ſtach gegen das Hervorkehren ſcheuer Mädcheuhaftigkeit und vorſichtiger
Zurückhaltung, das er ſo häufig an Töchternwon ſogenannter guter Er-
ztehung. gefunden hatte und um deſſenwillen ihm ein anhaltendes Geſpräch
mit ihnen meiſtens flach und nichtsſagend vorgekommen waar.
Otto hätte deshalb gleichfalls die Stellung kennen lernen mögen, welche —
ſeine beiden Begleiterinnen in der Geſellſchaft einnahmen. An dem Ver-
ſuche, ſie im Geſpräche darüber auszuholen, hinderte ihn das ihm eigene,
faſt pedantiſche Feſthalten an Grundſätzen. Er hatte es ſtets für eine der
erſten Regeln des Anſtandes gehalten, im Geſpräche mit Fremden nicht die
geringſte Neugier über ihre Perſönlichkeit zu verrathen, und allen Schein
zu vermeiden, als wünſche man über ihre Verhältniſſe und Angelegenheiten
Aufſchluß. An dieſer Regel hielt er auch heute feſt, obwohl er mehr als
je den Drang fühlte, ſie außer⸗Acht zu laͤſſen. Deshalb ſprang die Un-
terhaltung von den Mittheilungen. Otto's über ſich bald wieder auf allge-
meinere Themas über, zu welchen jene Berührungspunkte gegeben hatten
und von welchen das über Kunſt und⸗Literatur von-unſeren jungen Rei-
ſenden beiderſeits mit ſichtbarer Vorliebe behandelt wurden
Otto war von den Kenntniſſen und gefunden Urtheilen überraſcht,
welche ſeine Begleiterin hierbei beſonders über die Werke unſerer großen
Dichter entfaltete. So ertönte der langangehaltene Pfiff der Locomotive,
welcher den Reiſenden den Eiubauf des Zuges in den großen Bahnhof
ihres Reiſezieles verkündete, eher, als ſie erwartet hatteeen
lud ihn ein, ihnen einmal einen Beſuch zu ſchenken, und beſchrieb ihm ihre
Wohnung. Schon freute er ſich, daß der Lichtſchein der Coupeelaterne,
welcher auf die dargereichte Karte fiel, ihm noch im letzten Augenblick Ge-
legenheit zur Befriedigung' feiner Neugier geben ſollte. Dieſe war eben
Man rüſtete ſich zum Aufbruch; die ältere Dame gab ihm ihre Karte,