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Heidelberger Familienblätter — 1866

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No. 143 - No. 154 (2. Dezember - 30. Dezember)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43663#0621

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Heidelberger Tamilienblätter.

M 154. Sonntag, den 30. Dezember õͤ1866.

Ein Blatt aus Sodom und Gomorrha.

In den letzten Tagen des September verließ ein ſchön bemaltes, luſtig
flaggendes Dampfſchiff den Hafen von New⸗York. Ein großer goldener
Stern war erſt in den letzten Stunden vor dem Auslaufen des Schiffes
uuterhalb des Bugſpriets angebracht worden. Der „Evening Star“, bis
dahin unter den übrigen Kauffarthei⸗ und Paſſagierſchiffen des mannigfach
belebten Hafens faſt unbemerkt geblieben, hatte ſich plötzlich ſeiner unſchein-
baren Art und Weiſe begeben. Muſik erſchallte von ſeinem Bord herab
und hielt noch bis weit in die offene See hinaus die lauſchenden Ohren
und neugierigen Blicke jedes ihm begegnenden Schiffes feſt. Es wurde

dazu getanzt, gelacht und getrunken. Die berühmte Barke der Cleopatra

konnte nicht lebensluſtiger dreinſchauen. In der That hatte dies farben-
bunte, übermüthig dahin dampfende Schiff eine Fracht an Bord, welche bei-
leibe nichts von Kopfhängerei wiſſen wollte. Zuvörderſt eine Bande ſoge-
nannter Ethiopian Singers, nicht ſämmtlich wirkliche Negerkünſtler, aber
mit allen Toilettemitteln ausgerüſtet, um in der großen Baumwollen⸗Me-
tropole Neworleans, wohin man ſchiffte, als echte Nigger Concerte zu ge-
ben. Dann eine Geſellſchaft ftanzöſtſcher Operiſten, die Damen etwas ver-
blüht, die Herren etwas heiſer, aber Alle voll guter Laune und fröhlicher

Impromptus. Endlich ſtebzig bis achtzig mehr oder weniger abenteuerlich

geartete Weiber aus aller Herren Länder, zumeiſt noch jung und hübſch,
aber durch Leichtſinn, Unglück oder Arbeitsſcheu in die Hände eines jener
verworfenen Speculanten verfallen, die vor allem unter den ehemaligen
Sklavenhaltern ihre Kundſchaft haben. — New⸗York hatte Auswanderun-
gen dieſes Schlages oft genug geſehen, um den „Evening Star“ bald über
anderen Dingen zu vergeſſen. Nicht ſo die wenigen durch den Zufall in
dieſe zweifelhafte Geſellſchaft hineingerathenen Paſſagiere aus beſſeren Lebens-
ſtellungen. Man gewahrte bald, daß die. Mannſchaft ihren Dienſt nur
läſſig verſah, daß die Disciplin ſich lockerte, daß der Ernſt der Pflichten
bei jeder Veranlaſſung hinter der Sorgloſigkeit bequemen Gehenlaſſens zu-

rücktrat. Aber die See war ſpiegelglatt, der Himmel hell, die Maſchinen

thaten ihre Schuldigkeit. Man fügte ſich in's Unvermeidliche; man ſuchte
zu entſchuldigen, was zuerſt beleidigt hatte; man gelobte ſich ein anderes
Mal vorſichtiger. zu ſein und für diesmal Ohren und Augen geſchloſſen zu
halten. Zum Unglück hatte Neptun's Geduld ihre Grenzen. Als er Tag

und Nacht dies ausgelaſſene Treiben toller und immer toller werden ſah,

ſtoͤrte der alte Griesgram die Wellen mit ſeinem Dreizack mürriſch auf, und

bald hatte ſich das Lachen in Seufzen und Bangigkeit verwandelt. Am

1. Oktober Abends wurde das Meer unruhig, am Tage darauf geſtalteten

ſich die Windſtöße und Regenſchauer zum Sturm. Gegen Mitternacht vom

2. auf den 3. krachte das bereits lecke Schiff in allen Fugen. Ein förm-

licher Orkan zerzauſte die Maſten, zertrümmerte den Deckſalon, warf die

Bollwerke gegen die Schornſteine, und begrub die Heizer in der Maſchine
unter einer Sündfluth von Sturzwellen. Das Entſetzen war jetzt ebenſo
laut und allgemein, wie noch am Tage zuvor die Ausgelaſſenheit. Hier
Hilferufe, dort Gebete, dazwiſchen die Betäubungsverſuche und das Geläch-
ter derjenigen, welche nicht ſo raſch aus Lüſt und Sorgloſigkeit in Jammer

und Verzweiflung umſchlagen mochten. Man ſah Rathloſe, Händeringende,
 
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