Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 47.1936

DOI article:
Echte und falsche Bedürfnislosigkeit
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.10943#0084

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
ECHTE UND FALSCHE BEDÜRFNISLOSIGKEIT

Bekannt sind aus alter Zeit die Anekdoten von der
Bedürfnislosigkeit des zynischen Philosophen
Diogenes. Er trieb die Entbehrung allen Besitzes aufs
äußerste. Er verschmähte Haus und Heim, er »wohnte«
in seinem berühmten Faß, er trug einen Mantel voller
Löcher; es war sein Stolz, alles an irdischen Gütern
entbehren zu können. Eines Tages sah er einen Kna-
ben aus einer Quelle trinken, und zwar mit der hohlen
Hand. Da warf der Philosoph die hölzerne Trinkschale
fort, die er bis dahin mit sich geführt hatte, und
sprach: »Ein Kind hat mich gelehrt, daß man auch
dieses Gerät noch entbehren kann.« Und woher dieses
Streben nach Bedürfnislosigkeit? - Sie galt jenem
Zeitalter als ein Zeichen des alleinigen Strebens nach
dem geistigen Wert. Alles andre war Trug; nur
die Werte der Erkenntnis, die allein unvergänglichen,
waren des Erstrebens würdig. — Wie stehen aber wir
Kulturmenschen zu dieser Frage? Nun, wir ziehen
aus jenem alten Ideal der Bedürfnislosigkeit die
Lehre, daß der Mensch nicht ein Knecht seines Be-
sitzes sein soll, sondern ein freier Herr desselben, und
im übrigen wissen wir mit aller Deutlichkeit, daß
»Besitz«, das heißt ein gewisser Bestand an helfendem
Gerät, unauflöslich mit Kultur, und zwar gerade auch
mit geistiger Kultur, zusammenhängt. Am Geräte-

vorrat, den wir aus dem Boden vorgeschichtlicher
Siedlungen ausgraben, lesen wir den Kulturstand der
längst verschwundenen Siedler ab. Denn jedes Gerät
verdankt sein Entstehen einem Akt des Überlegens
und der bewußten Zielsetzung. Wir wissen wohl um
jene Bedürfnislosigkeit, die den Menschen innerlich
unabhängig von den Dingen hält. Aber wir wissen
auch, daß eine buchstäbliche, durchgängige Bedürf-
nislosigkeit, ein faktischer Verzicht auf eine ausge-
bildete, formvolle Ding- und Gerätewelt um uns her
den Verfall in die Barbarei bedeuten würde. Indem
wir die uns umgebende Dingwelt besonnen pflegen,
fördern wir unser Menschentum. Indem wir sie nach
bestem Können durcharbeiten, befestigen wir unsre
Menschenwürde. Das ist das Geheimnis der vielbe-
zeugten Tatsache, daß gerade im Lebensbereich der
einfachen, im Instinkt ungebrochenen Menschen
jener starke Trieb zur edlen Durchformung der Ge-
räte wirkt, den wir in aller »Volkskunst« bewundern.



Auf Wunsch teilen wir mit, daß die Entwürfe zu
l den im Septemberheft 1935, S. 307, wiederge-
gebenen Abbildungen aus dem Kunstatelier der Firma
Christoph Andreae in Köln-Mülheim stammen.
 
Annotationen