INNEN-DEKO RATION
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PROF. W. VON WERS1N-MÜNCHEN »TEEWAGEN« FARBIG LACKIERT
FÜHRUNG UND SPIELRAUM
Tch habe einen Freund, der sich bei allerlei Gelegen-
X heiten an dem Gedanken freut: »Am Nordpol ist
auch die Kartoffel eine Südfrucht.« Das sieht nicht
sehr tiefsinnig aus. Aber es ist immerhin ein hüb-
sches Bild für die Relativität der Werte, und es kann
auch Anwendung finden auf den zivilisatorischen
Fortschritt der Menschheit. Denn dieser Fortschritt
enthält als ständiges Motiv: Was einmal Luxus war,
wird Alltäglichkeit. Was einmal Südfrucht war, wird
Kartoffel. Vor Goethes Waschschüsselchen in Wei-
mar begreift jeder, was ein neuzeitliches Badezimmer
einmal für ein unerhörter Luxus gewesen ist, und an
diesen Luxus ist heute selbst der einfachste Mann aus
dem Volke gewöhnt. Alle zivilisatorischen Errungen-
schaften sind Südfrüchte, die zu Kartoffeln wurden. -
Daran muß man denken, wenn man sich zu einem
Kampf gegen den »Überfluß«, gegen »Überfeinerung«,
kurz gegen den Luxus versucht fühlt. Der Luxus ist,
wenn nicht der einzige, so doch ein sehr wichtiger
Schrittmacher der Zivilisation. Man kann darüber
streiten, ob Zivilisation die Menschen besser oder
glücklicher macht; Rousseau hat bekanntlich diese
Frage schroff verneint. Aber man kann nicht dar-
über streiten, ob Zivilisation des Luxus bedarf oder
nicht. Wer Zivilisation will, wer also fortschreitende
Steigerung der allgemeinen Lebensform zu Nutzen
der ganzen Gemeinschaft will, der ist gezwungen, in
irgendeiner Weise auch den »Luxus« zu bejahen, den
Vorstoß zu höherer Lebenspflege, das Auftreten und
die Befriedigung bisher unbekannter Bedürfnisse. -
Wer sind denn die Leute, die auf »luxuriöse« Einfälle
kommen? Sie sind Menschen wie wir alle. Was sie
erstreben und erfinden, wird höchstwahrscheinlich für
viele, vielleicht sogar für alle erstrebenswert sein. Wir
Älteren, die wir das Werden der neuen Bauform und
der neuen Wohnungskunst von Anfang an miterleb-
ten, haben besonders eindrucksvolle Bilder für den
Schrittmacher-Dienst des sogenannten Luxus vor
Augen. Die ersten Wohnbauten auf der Darmstädter
Künstlerkolonie sahen so aus, als könne sich nie aus
ihnen etwas für die allgemeine Wohnkultur des Vol-
kes ergeben. Kostbare Hölzer, teure Beschläge und
Verzierungen, lauter kostspielige Handarbeit, unge-
wöhnliche Abmessungen der Räume, dazu überm
Ganzen die Stimmung hieratischen Kunstpriester-
tums - wie sollte das je dem gemeinen Mann zugute
kommen? Hätte man damals schon die Losung ge-
habt: Alles für den sofortigen Volksgebrauch! -
diese Bewegung hätte keinerlei Zukunft gehabt. Und
trotzdem hat sie gerade dem Wohnen der breiten
Volksmassen den größten Dienst erwiesen, von dem
wir in den letzten Jahrhunderten wissen. Die Bürger-
wohnung, die Arbeiter- und Siedlungswohnung, die
Wohnung des eben beginnenden kleinen Hausstandes
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PROF. W. VON WERS1N-MÜNCHEN »TEEWAGEN« FARBIG LACKIERT
FÜHRUNG UND SPIELRAUM
Tch habe einen Freund, der sich bei allerlei Gelegen-
X heiten an dem Gedanken freut: »Am Nordpol ist
auch die Kartoffel eine Südfrucht.« Das sieht nicht
sehr tiefsinnig aus. Aber es ist immerhin ein hüb-
sches Bild für die Relativität der Werte, und es kann
auch Anwendung finden auf den zivilisatorischen
Fortschritt der Menschheit. Denn dieser Fortschritt
enthält als ständiges Motiv: Was einmal Luxus war,
wird Alltäglichkeit. Was einmal Südfrucht war, wird
Kartoffel. Vor Goethes Waschschüsselchen in Wei-
mar begreift jeder, was ein neuzeitliches Badezimmer
einmal für ein unerhörter Luxus gewesen ist, und an
diesen Luxus ist heute selbst der einfachste Mann aus
dem Volke gewöhnt. Alle zivilisatorischen Errungen-
schaften sind Südfrüchte, die zu Kartoffeln wurden. -
Daran muß man denken, wenn man sich zu einem
Kampf gegen den »Überfluß«, gegen »Überfeinerung«,
kurz gegen den Luxus versucht fühlt. Der Luxus ist,
wenn nicht der einzige, so doch ein sehr wichtiger
Schrittmacher der Zivilisation. Man kann darüber
streiten, ob Zivilisation die Menschen besser oder
glücklicher macht; Rousseau hat bekanntlich diese
Frage schroff verneint. Aber man kann nicht dar-
über streiten, ob Zivilisation des Luxus bedarf oder
nicht. Wer Zivilisation will, wer also fortschreitende
Steigerung der allgemeinen Lebensform zu Nutzen
der ganzen Gemeinschaft will, der ist gezwungen, in
irgendeiner Weise auch den »Luxus« zu bejahen, den
Vorstoß zu höherer Lebenspflege, das Auftreten und
die Befriedigung bisher unbekannter Bedürfnisse. -
Wer sind denn die Leute, die auf »luxuriöse« Einfälle
kommen? Sie sind Menschen wie wir alle. Was sie
erstreben und erfinden, wird höchstwahrscheinlich für
viele, vielleicht sogar für alle erstrebenswert sein. Wir
Älteren, die wir das Werden der neuen Bauform und
der neuen Wohnungskunst von Anfang an miterleb-
ten, haben besonders eindrucksvolle Bilder für den
Schrittmacher-Dienst des sogenannten Luxus vor
Augen. Die ersten Wohnbauten auf der Darmstädter
Künstlerkolonie sahen so aus, als könne sich nie aus
ihnen etwas für die allgemeine Wohnkultur des Vol-
kes ergeben. Kostbare Hölzer, teure Beschläge und
Verzierungen, lauter kostspielige Handarbeit, unge-
wöhnliche Abmessungen der Räume, dazu überm
Ganzen die Stimmung hieratischen Kunstpriester-
tums - wie sollte das je dem gemeinen Mann zugute
kommen? Hätte man damals schon die Losung ge-
habt: Alles für den sofortigen Volksgebrauch! -
diese Bewegung hätte keinerlei Zukunft gehabt. Und
trotzdem hat sie gerade dem Wohnen der breiten
Volksmassen den größten Dienst erwiesen, von dem
wir in den letzten Jahrhunderten wissen. Die Bürger-
wohnung, die Arbeiter- und Siedlungswohnung, die
Wohnung des eben beginnenden kleinen Hausstandes