Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 49.1933-1934

DOI Artikel:
Werner, Bruno E.: Der große Pendelschlag: zur Frage "Was ist deutsche Kunst?"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.16481#0021

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Jahrhunderts jene Mattigkeit eintrat, wie man sie
bei einem Körper Endet, dessen ßlut von fremden
Bestandteilen überschwemmt wird. Es erfolgte ein
Rückschlag, diesmal schon revolutionärer Natur,
nicht ohne Anregung durch einige nordische Vor-
läufer wie van Gogh und Münch. In diesem Pendel-
schlag zitterte dieVorgewitterluft entscheidender Ge-
schehnisse. Die bürgerliche Kunst der vorangegan-
genen Zeit wurde als eine Endstation empfunden.
Ein wahrer Tumult brach in der Kunst aus. Man
muß schon, obwohl der Vergleich nur bedingt zu-
trifft, da die Zielrichtung diesmal entgegengesetzt
verläuft, an den Beginn des 15. Jahrhunderts in der
Plastik denken, als eine ähnliche Wendezeit an-
bricht, als Realismus und Mystik, nüchterne Beob-
achtung und abstrakte Linienphantasie in Bataillo-
nen einhermarschieren. von einer unsichtbaren Fäh-
rung kommandiert. Nunmehr heute: Magie der
Farbe, Sachlichkeit der Zeichnung, Auflösung der
Gestalt, Verfestigung der Gestalt, rhythmische Be-
wegtheit, kristallische Erstarrung, pathetische Rea-
listik, träumerische Vision, Begrifflichkeit und
Rausch, alles scheint, überblickt man die letzten
Jahrzehnte, durcheinanderzutanzen. Noch nie ist
das Bild so anspruchsvoll gewesen, noch nie so
bescheiden, sich nur als dekoratives Gebilde zu be-
gnügen. Dabei besteht der Drang zur Monumental-
malerei, fort vom Wandbild, Dienerin der Archi-
tektur zu werden, jener Architektur, deren Gesicht
wieder ganz anders geartet scheint, und in der die
klare kubische Übersichtlichkeit der Romantik den
Kampf ansagt und doch wieder mit Glas und ge-
schliffenen Flächen, die transparent vor einander
lagern, Ausdruck einer eigenen mathematischen Ro-
mantik wird. Aber in den meisten dieser Kunst-
äußerungen wird die Abwendung von den fremden
Einflüssen sichtbar. Sie stehen instinktiv unter dem
Gesetz der Linie wie die alte germanische Kunst und
suchen hier mit der Linie weniger das Abbild als
einen seelisch-geistigen W illensausdruck zu geben,
so daß man in Paris und Neuyork zum erstenmal
wieder von einer „deutschen Malerei" spricht und
in Italien von dem „stylo tedesco", womit man die
neue deutsche Architektur meint.
Wir haben einen Januskopf vor uns, zurückgewandt,
weit, bis in die Zeit vor der Renaissance und zugleich
in die Zukunft blickend. Die Sehnsucht nach Volks-
gemeinschaft, ja nach einerneuen religiösen Bindung
ist gerade so zu spüren wie der W7ille, die rein ästhe-
tische Haltung der Kunst gegenüber zu überwinden,
mögen daneben auch entfesselter Individualismus
und leere Artistik Exzesse feiern.
Aber sehen wir davon ab, die Gegenwart eingehend
zu untersuchen mit ihrem großartigen, in den Vor-
kriegsjahren ausbrechenden Willen, die deutsche
mittelalterliche Kunst fortzusetzen, mit einer tragi-
schen Auftriebskraft, der der lange Atem zur frucht-
baren Dauer fehlte, sehen wir von all den Hoff-

nungen und Enttäuschungen, den Begeisterungen
und Ernüchterungen ab und auch von jenen ein-
samen schöpferischen Menschen, deren Leben und
Werk heute noch Beruhigung und Glauben an die
Zeit vermitteln, — halten wir uns an diesen über
einem Jahrtausend skizzierten Uberblick. Er gibt
wohl eine Antwort, was deutsche Kunst sei.

Deutsche Kunst! Wir vermögen in ihr nichts Edleres
und Vornehmeres zu sehen als den Ausdruck der gro-
ßen tragisch-heroischen Spannung, der für das Wesen
der größten deutschen Menschen zu aller Zeit charak-
teristisch gewesen ist und den Deutschen ihre wunder-
bare, metaphysische Einzigartigkeit verleiht. Es ist
jenePolarität,für die die deutschen GeisterTausende
von Begriffspaaren gefunden haben von Schillers
„Naiv-sentimentalisch'' bis zu Nietzsches „Apolli-
nisch-dionysisch", Begriffspaare wie Klassisch-ro-
mantisch, Rational-irrational, Begriffspaare, die eben
nur Begriffe bleiben können, weil sie jene lebendige
unverwesliche Substanz des deutschen Volkes nie
zu decken, sondern nur zu umschreiben ver-
mochten.

In dieser Spannung, in diesem dynamischen Pendel-
schlag zwischen zwei Welten, sehen wir das Wesen
der deutschen Kunst. Nicht in der Todessehnsucht
der germanischen Mythologie mit ihrer körperlosen
Ornamentik und ihren Göttern, dieim Chaos enden,
noch in der Diesseitsbejahung einer antiken Mytho-
logie, die in organisch-rationalen Formen eine Har-
monie des Kosmos geben will, sondern in der Span-
nung zwischen diesen beidenWelten. in dem Weg von
einem zum andern und vom andern zum einen, —
und es ist, wie die deutsche Geschichte lehrt, bei
Gott, ein tragisch-heroischer WTeg, wie die Welt
keinen gewaltigeren kennt.

Wem diese Antwort nicht hinreichend eindeutig,
nicht empirisch klar, nicht einfach, simpel genug
lautet, der möge sich sagen: wie wunderbar ist es
um ein Volk und seine Kunst bestellt, das nicht in
letzter Bewußtseinshelle über sich selbst Aufschluß
zu geben vermag, das noch verbunden ist mit jenen
unfaßbaren Urkräften, die die schöpferische Zukunft
in sich bergen! Wem aber die Geschichte und die
großen Zeugen deutscher Gestaltwerdung etwas be-
deuten, derjenige, der weiß, daß Kunst Chiffre der
Transzendenz ist, nie Ausdruck der innerpolitischen
Haltung, sondern Sinnbild der Beziehungen eines
Volkes zu seinem Gott, — der weiß auch, daß man
dem großen Pendel, der durch die Seele des Landes
schwingt, nicht Einhalt gebieten kann und daß man
hier mit Begriffen wie deutsch oder undeutsch höchst
vorsichtig umgehen muß.

Denn vom Baum der Kunst fallen die morschen
Zweige ganz von selber, während die starken, weiter
wachsend, in den Himmel greifen.

15
 
Annotationen