Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 55.1939-1940

DOI article:
Gestaltete Mimik
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.16488#0030

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Gestaltete Mimik

In der Kunst der deutschen Gotik begegnen wir immer
wieder Köpfen von unbändiger Kraft des mimischen
Ausdruckes. Unsere Tafel zeigt einen solchen aus
dem Altar von Mauer bei Melk, der diesen Sommer
auf der Wiener Ausstellung „Altdeutsche Kunst im
Donauland"' gezeigt wurde.

Der hochgesteigerte mimische Ausdruck ist in der
Plastik eine nicht ungefährliche Aufgabe. Wir ken-
nen viele Beispiele, in denen er zur Grimasse gewor-
den: und wir kennen in der neueren Plastik noch
viel mehr Beispiele, in denen er triviale Sentimen-
talität wurde, die im Stofflichen des Gegenständlichen
haften geblieben, die nur Illustrierung, aber nicht
Gestaltung geworden ist. Die befreiende und er-
hebende Wirkung der Kunst aber gewinnt der mimi-
sche Ausdruck in der Plastik erst dann, wenn er nicht
im Stoff erstarrtes Abbild eines ausdrucksvollen Ge-
sichtes ist, sondern wenn die Formzüge der Plastik
selbst zum Ausdrucksmittel vergeistigt sind, wenn sie
in musische Bewegung kommen und diese ihre Be-
wegtheit als Musik der Form erklingt.
Niemand wird sich in dem Kopf von Mauer der Aus-
druckskraft dieser Augen, dieser Stirn, dieser Wan-
gen entziehen können. Aber wenn wir nur den dar-
gestellten Menschen darin sehen und nun diesem
Menschen und seinem Schicksal nachsinnen, dann
laufen wir Gefahr, dessen nicht teilhaftig zu werden,
was der gotische Gestalter uns zu sagen hat, des Ein-
zigartigen, was diesen Kopf so hoch über sentimen-
tale Ausdrucksköpfe einer Pseudokunst emporhebt.
Wir stellen diesem gotischen Werk einen Kopf der
späten griechischen Antike, aus dem Fries des Per-
gamonaltares in Berlin, gegenüber — einen der größ-
ten stilistischen Gegensätze zu dem deutschen Kopf
der Spätgotik, den man finden kann. Denn unend-
lich verschieden sind die kulturellen Voraussetzun-
gen, aus denen die beiden Werke entstanden sind. Un-
endlich verschieden ist das Lebensgefühl der beiden
Künstler, die diese beiden Antlitze geformt haben.
Darum ist so unendlich verschieden der unmittelbare
seelische Ausdrucksgehalt der Formensprache, in der
sich ihr Lebensgefühl als Bildwerk verkörpert. Man
könnte bei diesem Unterschiede verweilen und her-
ausheben, wie der gotische Kopf „nach innen ge-
wandt" ist. Wie der Künstler ganz dem Drange inne-
rer Kräfte hingegeben ist, die ihn über sich hinaus-
heben: wie er in seiner Formensprache diesem Drange
die sinnfälligen Formzeichen erschafft: wie die strö-
menden Züge der Formhöhen die ausdrucksgelade-
nen „Zeichen" sind: wie die Formzüge drängend
strömen und so seine Sehnsucht unmittelbar „sagen",
wie sie seiner gotischen Augensehnsucht ihr Bild
erschaffen.

Man könnte dagegen herausheben, wie in dem per-
gamenischenKopf der unmittelbare seelische Ausdruck
der Form nicht in dem sich Drängenden gratiger Züge
liegt, sondern in der körperhaften Fülle plastisch sich
rundender schwellender Formen. Wie darum diese
Körperlichkeit nicht Ausdruck eines „Transzenden-
talen" ist: sondern wrie der dem Körperhaften Hinge-
gebene sich in der plastischen Vollendung dieses Kör-
perhaften ausdrückt; wie er in seiner Kunst nicht
über sich hinaus, sondern zu sich selbst geführt wird.
So unendlich verschieden nun aber auch das Lebens-
gefühl, so verschieden damit auch gotischer und an-
tikischer Formcharakter in diesen beiden Köpfen
sind — wie in den Architekturen, denen sie zuge-
hören — so sind sie doch beide Gestaltung. Darum
kann ihre Gegenüberstellung nicht nur die Verschie-
denheit der Empfindungswelten herausheben, aus
denen sie stammen, sondern sie kann auch das Ge-
meinsame zum Erlebnis bringen, das in der Schöp-
fung der künstlerischen Form liegt. Denn bei beiden
Meistern war es das schöpferische Auge, das die
Sprache der Form schuf: sie ist das gemeinsame schöp-
ferische Prinzip, das beide Lebensauffassungen zu in
sich vollendeten Gebilden werden ließ, in denen sie
Erfüllung finden.

Darum sind diese Köpfe nicht mittelbare Illustrie-
rung mimischer Inhalte, sondern sie sagen selbst
ihren Gehalt unmittelbar in der Sprache des Musi-
schen. In beiden Köpfen „ertönt" unmittelbar die er-
regte Bewegtheit der mimischen Handlung des Ant-
litzes: in dem gotischen spricht sie aus den Höhen-
zügen der Wangenfalten, der Augenbögen, der hoch-
gedrängten Stirne, dem zarten Grat der vibrieren-
den Nase. (Nicht im selben Maß aus den Formen
des Mundes.) In dem antiken Kopf sind es volle
schwellende Wogen der Form, die, von dem Kampf-
geschehen emporgetrieben, auch unserem Auge den
tragischen Klang dieses schmerzvollen Dramas im
Antlitz des Unterliegenden unmittelbar „sagen".
V enn wir so zum Schluß bei beiden Köpfen vielleicht
noch einmal Augen und Stirne besonders herausheben
(indem wir das übrige verdecken), so können wir —
trotz der unendlichen Unterschiede des Ausdrucks-
charakters und der zeitlichen Lage der Stile — das
hindurchwirkende Gesetz musischer Schöpfung er-
kennen: Hier wie dort spricht die Form unmittelbar
ihren Gehalt aus. Hier wie dort sind diese sprechen-
den Formen aufgebaut zu der Ganzheit eines künst-
lerischen Bildes. Hier wie dort ist es das schöpferische
Prinzip des geistigen Auges, das der Lebenssehnsucht
ihr vollendetes Sinn-Bild erschafft; das auch unse-
rem aufnehmenden Auge das Lebensglück schenkt in
Meisterwerken erfüllte Ideale anzuschauen.

E. K.

Kunst für Alle, Jahrg. 55. Heft 2, November 1939

4

25
 
Annotationen