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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 55.1939-1940

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Möbius, Martin Richard: Die letzten Bohémiens
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https://doi.org/10.11588/diglit.16488#0174

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Willy Müller, Lückendorf. Jeschken-Landschaft. Sudeten

Die letzten Bohemiens

Seitdem Mitte vorigen Jahrhunderts Murgers Roman
„Scenes de la vie de Boheme" populär geworden war,
blieb „Boheme" die Bezeichnung für „das ungeregelte Le-
ben junger Künstler". Vor allem in Paris, in den Gegenden
des Montmartre und Montparnasse entwickelte sich die
Boheme in solcher Breite, daß heute noch junge Künstler
nach alten Vorbildern greifen können, um in völliger Un-
abhängigkeit von bürgerlichen OrdnungsbegrifFen ihr Ta-
lent zu pflegen. Aber auch in anderen Großstädten, vorzüg-
lich in Wien, wo das Makartatelier Eindruck gemacht
hatte, wuchsen „Bohemiens" heran, die der Freiheit frön-
ten, von keiner Sitte oder Vorschrift belästigt „Genie" zu
sein. Wie immer zu Zeiten, die ohne große, alle Schichten
durchdringende und fesselnde Ideen hingehen, ist auch
vor und nach der letzten Jahrhundertwende der Indivi-
dualismus groß geworden. Wer hätte mit entschiedenerer
Konsequenz „Individualist" sein können, als der Künstler
jener Zeit? Niemand machte ihm Vorschriften, nirgends
drohte eine Verantwortung, — so wurde der Künstler ein
Nachfahr des alten Bohemiens und pflegte die Überliefe-
rung der Unordnung und Verantwortungslosigkeit in der
Hoffnung, eines Tages aus der überragenden Leistung das
Recht abzuleiten, so formlos gelebt zu haben.
Wieviel Künstler dürften sich wohl dieses Recht unzwei-
felhaft errungen haben? Von den vielen Hundert Malern
und Bildhauern, die jedes Jahr die Akademien und Kunst-
hochschulen verließen, sind zwar die meisten Bohemien

geworden, doch die wenigsten haben ihr Talent so entwik-
keln können, daß gegenüber ihren Schöpfungen die Frage
nach dem Lebensstil nebensächlich erschiene. Sie kauften
sich riesengroße Schlapphüte, schwarze Samtjacken und
Halstücher in der Art der Lavalliere, sie mieteten ein Ate-
lier und sonderten sich vom Bürger ab. Sie waren unter
sich, auch in ihren Kaffeehäusern und Lokalen, sie pfleg-
ten eine drastische Ausdrucksweise, deren wichtigste
Phrase war: „Epater le bourgeois", den Bürger befeinden,
den Pedanten verdrängen, die Ordnung stören, das waren
die betonten Redensarten dieser jungen Talente, die ge-
meinhin davon träumten, morgen das große Meisterwerk
beginnen zu können, doch übermorgen immer noch nicht
wußten, wie dieses Meisterwerk aussehen würde. Die meisten
von ihnen haben ihr Leben lang auf den Tag oder die Nacht
gewartet, wo ihr Genie sich endlich Bahn brechen würde;
ewige Träumer ihres Ruhms, begnügten sie sich schließlich
mit dem Schein der großen Berufung und unterstrichen jene
Lebensgewohnheiten, die das eine und das andere Genie
einmal wirklich gebraucht hatte, um Genie zu bleiben.
Ernst sei das Leben, heiter die Kunst, hieß es damals, und
so entstand auch die Vorstellung vom „heiteren Künstler-
völkchen", das in unendlicher Freiheit darauflos lebte und
sich um keinen moralischen Anspruch kümmerte. Man-
cher bürgerliche Mensch wollte den Künstler beneiden,
mancher sehnte sich, ebenso leicht die Last des Lebens zu
tragen, —■ jene Zeit lebte von Mißverständnissen auf bei-

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