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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 55.1939-1940

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Möbius, Martin Richard: Die letzten Bohémiens
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https://doi.org/10.11588/diglit.16488#0175

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Willy Müller, Lückendorf. Stürmischer Winterabend

den Seiten. Das Verhängnis zog herauf, als nach der Jahr-
hundertwende mit der Verwirrung aller Maßstäbe für die
Kunst der Sonderling häufig wurde, das abgesonderte, völ-
lig isolierte Talent, das die Stillosigkeit des Lebensstils auf
die Spitze trieb und das Asoziale in die Anarchie führte.
Alle festen Begriffe auflösen, das Bürgerliche vernichten,
die Ordnung ausrotten, das waren die Grundfesten des
Bohemegeistes zu Beginn des 20. Jahrhunderts, — kaum
einer dieser Sonderlinge ahnte wohl, welche verhängnis-
volle Haltung die jungen Künstler mit dieser Parole befe-
stigten. Bald zeigte sich, wie tief die Kluft zwischen Künst-
ler und Bürger geworden war. Es gab offene Feindschaf-
ten, hüben die anarchistisch eingestellten Künstler, drüben
die zur Ordnung rufenden Bürger. Und die Kunst kam zu
Schanden. Ihr fehlte die lebendige, im Volkskörper ruhende
Mitte. Es wurden Ismen ausgerufen, Bichtungen verfoch-
ten, Snobismen erkämpft, aber nicht vor den Augen des
Volkes, sondern in den Salons der Sammler, Mäzene und
Händler. Jeder Künstler wollte etwas Besonderes werden.
Auffallen um jeden Preis, Sensation machen durch Ori-
ginalität, das war der letzte Krampf der im luftleeren
Raum geisternden Boheme.

Die Zeiten hatten sich geändert, während die Kunstrich-
tungen ins Abstrakte eilten, — der Bürger gedieh, der
Künstler hungerte. Der Hunger war in der Nachkriegszeit
nicht nur materiell, sondern auch seelisch, geistig. Das
hatten die Schwärmer des ausgehenden 19. Jahrhunderts
nicht vorausgesehen, welche Wendung die Dinge außer-
halb der Ateliers nehmen würden. Es gab keinen festen
Begriff der Kunst mehr, keine Kunstwerke, die gleich den
Marien Dürers, Holbeins oder Riemenschneiders ins Volk

kamen und dort unmißverständlich ihr Leben führten.
Dennoch hat der Mann aus dem Volk noch immer gewußt,
wer ein Meister ist oder ein Charlatan. Das Volk will die
Sachen wiedersehen, mit denen zu leben es gewohnt ist,
aber nicht deren gewaltsame Abstraktionen. Wie könnte
es sich Dürer in einem Atelier als Bohemien vorstellen .. .
nein, der saß in seiner Nürnberger Stube wie der Hierony-
mus im Gehäus. Und auch die anderen großen Maler der
neueren Zeit hatten nur ihre stille, bürgerliche Stube.
Werkstattmäßig sah es dort aus, gewiß, aber ohne die auf-
dringlichen Dekorationen der Bohemiens, wo jedes Stück
sagt: „Seht, was bin ich für ein Genie!" Diese Maler wur-
den Meister, und so hatte die große deutsche Kunst immer
den Zug des Meisterlichen, was aus den Ateliers der Jahr-
hundertwende kam, konnte wohl gelegentlich den Kenner
in Erstaunen versetzen, den Weg ins Volk fand es nur
selten. Was der „Herr Kunstmaler", der sich „akademisch
gebildet" bezeichnete, in Samtjacke und Barett „gestal-
tete", das ging höchstens den und jenen Snob etwas an;
mit dem großen Kunstgut, das die Jahrhunderte zu über-
dauern vermöchte, hatte es nichts zu tun. Deshalb sind
diejenigen Künstler, die das Glück und die Ehre haben,
zum Volk zu gehören, wieder auf dem Wege zur Meister-
tradition der Deutschen Kunst. Die Darstellung der Welt
aus den Kräften des Gemüts, die Gestaltung des Sinnbilds
zum Zweck seelischer Wirkungen, das ist wiederum die
Aufgabe geworden. Und so werden wir eines Tages auch
wieder große Meisterwerke erhalten, die aus keiner Bo-
heme stammen, sondern aus der Werkstatt des Herzens,
aus der Demut des Dienstes für das Volk und seinem ewi-
gen Reichtum an Kunst. M. R. Möbius

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